Auffahrunfälle gehören zu den häufigsten Verkehrsunfällen im Straßenverkehr. In der juristischen Bewertung solcher Kollisionen steht regelmäßig die Frage im Vordergrund, ob und in welchem Umfang der Auffahrende haftet – insbesondere unter Berücksichtigung des sogenannten Anscheinsbeweises, wonach ein Auffahrender grundsätzlich als unaufmerksam oder mit zu geringem Sicherheitsabstand fahrend gilt.
Die nachfolgende Entscheidungssammlung gibt einen praxisrelevanten Überblick über aktuelle und grundlegende Urteile zur Haftungsverteilung bei Auffahrunfällen. Dabei wird deutlich, dass der Anscheinsbeweis nicht in jedem Fall zur Anwendung kommt und die Haftung stark vom konkreten Unfallgeschehen abhängt. Insbesondere bei Spurwechseln, grundlosem Abbremsen, Serienunfällen oder Seitwärtskollisionen kann der typische Geschehensablauf durchbrochen sein – mit der Folge, dass eine Alleinhaftung des Auffahrenden ausgeschlossen oder sogar eine Alleinhaftung des Vorausfahrenden angenommen wird.
Die hier dokumentierten Urteile verschiedener Gerichte – darunter der Bundesgerichtshof, mehrere Oberlandesgerichte und Landgerichte – veranschaulichen die differenzierte Anwendung der Haftungsgrundsätze bei Auffahrunfällen und bieten eine fundierte Orientierung für die rechtliche Bewertung solcher Sachverhalte im Verkehrsrecht.
- BGH – Urteil v. 13.12.11: Bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ist ein Anscheinsbeweis regelmäßig nicht anwendbar, wenn zwar feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist.
- LG Mönchengladbach – Urteil vom 25.08.08: Wenn ein Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug stark abbremst um den nachfolgenden Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren oder zu maßregeln, kann dies die Alleinhaftung des Vorausfahrenden zur Folge haben.
- OLG Celle – Urteil vom 19.12.07: Bei einer Kollision zwischen einem nach links abbiegenden Kraftfahrzeug und einem nachfolgenden Motorrad, das zum Überholen angesetzt hat, greift weder ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden noch zu Lasten des Linksabbiegers ein.
- OLG Celle – Urteil vom 05.12.07: Ein Auffahrunfall liegt nicht vor, wenn das nachfolgende Fahrzeug nicht in das Heck, sondern in die Seite des vorausfahrenden Fahrzeugs fährt. Damit liegen auch die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises, wonach der Unfall durch Unaufmerksamkeit oder zu geringen Abstand des Führers des nachfolgenden Fahrzeugs verursacht wurde, nicht vor.
- LG Mainz – Urteil vom 04.05.06: Bleibt bei einem Serienunfall (Auffahrunfall, an dem mehrere Fahrzeuge beteiligt sind) ungeklärt, ob ein so genannter Aufschiebeunfall oder ein Doppelauffahrunfall vorliegt und ob eine bestimmte Beschädigung beim ersten oder beim zweiten Anstoß entstanden ist, scheidet eine Haftung des zuletzt Auffahrenden aus.
- OLG Frankfurt – Urteil vom 02.03.06: Bremst ein Kraftfahrer grundlos ab und fährt infolgedessen ein anderer Verkehrsteilnehmer auf das Fahrzeug des Abbremsenden auf, so liegen die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises, wonach von einem Verschulden des Auffahrenden auszugehen ist, nicht vor.
- LG Mönchengladbach – Urteil vom 16.04.02: Wird ein Auffahrunfall durch ein verkehrswidriges starkes Bremsmanöver des Vorausfahrenden verursacht, so trifft den Vorausfahrenden die Alleinverursachung.