Zum Inhalt der Entscheidung: Die Übergehung der Einlassung des Betroffenen, er sei nicht Fahrer des gemessenen Kraftfahrzeugs gewesen, aus nicht haltbaren prozessualen Erwägungen heraus, verletzt den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Oberlandesgericht Hamm
Beschluss vom 05.04.2006
Tenor:
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 18.11.2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen zurückverwiesen.
Aus den Gründen:
I.
Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen mit Urteil vom 18.11.2005 wegen Überschreitens der nach Zeichen 274 StVO zulässigen Höchstgeschwindigkeit (fahrlässige Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 24 StVG i.V.m. §§ 41, 49 Abs. 3 Ziffer 4 StVO) eine Geldbuße von 50,- € verhängt. Zum Tatgeschehen hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:
„Der Betroffene ist Halter des PKW BMW mit dem Kennzeichen (…). Am 09.05.2005 um 05:43 Uhr befuhr er die BAB 40 in Fahrtrichtung C. In Höhe der „T-Straße“ überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h. An dieser Stelle der Autobahn ist über eine Schilderbrücke die zulässige Geschwindigkeit auf 100 km/h beschränkt. Vor der Messstelle sind im größeren Abstand zwei dieser Schilderbrücken angebracht, auf denen die Geschwindigkeitsbegrenzung angezeigt wird. Die Messung wird durchgeführt über eine stationäre Messeinrichtung wobei die Messung und das Messfoto mittels eines Gerätes der Firma T GmbH erstellt wird. Die Messung erfolgt nicht mittels Radar sondern über Kontaktstreifen, die in die Fahrbahn eingelassen sind. Das Messgerät ist linksseitig in Fahrtrichtung des Betroffenen aufgestellt. Der Betroffene befuhr zu diesem Zeitpunkt die mittlere Fahrspur der an dieser Stelle dreispurigen Autobahn in jeder Fahrtrichtung.
Gemessen wurde eine Geschwindigkeit von 130 km/h. Abzüglich des Toleranzwertes war die vorwerfbare Geschwindigkeit 126 km/h, also 26 km/h über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.“
Im Hauptverhandlungstermin vom 18.11.2005 hatte der Verteidiger u.a. den Beweisantrag gestellt, ein anthropologisches Sachverständigengutachten zum Beweis dafür einzuholen, dass der Betroffene das Fahrzeug zur Tatzeit nicht geführt habe. Diesen Beweisantrag hat das Amtsgericht wie folgt abgelehnt:
„B.u.v.:
Auch dieser Beweisantrag wird abgelehnt, da keine überprüfbaren Anhaltspunkte des Gerichts vorhanden sind.“
In den Urteilsgründen hat das Amtsgericht hierzu ausgeführt:
„Auch dieser Beweisantrag war zurückzuweisen, weil das Messfoto bzw. die Vergrößerung des Fotos, das den Fahrzeugführer zeigt, Bl. 4 d.A., nicht so viele Gesichtsmerkmale zeigt, dass ein Gutachter mit einem hinreichenden Grad von Wahrscheinlichkeit die Identität oder Nichtidentität zwischen Fahrer und Betroffenen feststellen kann. Auf dem Foto sind Teile des Gesichtes des Fahrzeugführers verdeckt. Die linke Gesichtshälfte ist nicht sichtbar. Der obere Teil des Kopfes ist ebenfalls verdeckt. Vom oberen Teil des Kopfes ist nur der untere Teil der Stirn sichtbar. Zudem sind die Gesichtskonturen nicht klar sondern leicht verschwommen. Wenn Teile des Gesichtes verdeckt sind und mehrere Gesichtsmerkmale und Konturen wie beispielsweise die Ohren nicht zu erkennen sind, hat dies zweifelsohne Auswirkungen auf den Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Gutachter eine Identität oder Nichtidentität zwischen Fahrer und Betroffenen feststellen kann. Der Gutachter kann deshalb auch nur einen solchen Eindruck gewinnen wie es das Gericht kann. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Gesichts des Fahrzeugführers, das auf dem Bild Bl. 4 d.A. wiedergegeben ist, dem Gesicht des Betroffenen sehr ähnlich ist. Dies hat der Verteidiger quasi dadurch zugegeben, dass er bekundete, alle männlichen Verwandten des Betroffenen sähen so aus wie der Betroffene, so dass auch ein anderer Verwandter als Fahrzeugführer in Betracht komme. Seitens der Verteidigung wird daher eingeräumt, dass die Erkenntnis des Gerichtes, der Fahrzeugführer sehe aus wie der Betroffene, richtig ist.
Die Überzeugung des Gerichtes, dass der Betroffene der Fahrzeugführer ist, ergibt sich auch daraus, dass nicht nur die Fahrereigenschaft des Betroffenen angezweifelt und bestritten wird, sondern auch die ordnungsgemäße Geschwindigkeitsmessung, obwohl sich für eine nicht ordnungsgemäße Messung überhaupt keine Ansatzpunkte ergeben. Da die Verteidigung offensichtlich versucht, nicht die Wahrheit zu erforschen, sondern das Verfahren zu torpedieren, ist das Gericht umso mehr davon überzeugt, dass der Betroffene auch der Fahrzeugführer ist.“
Gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil hat der Betroffene mit am 18.11.2005 bei dem Amtsgericht Essen eingegangenen Schreiben seines Verteidigers Rechtsbeschwerde eingelegt und deren Zulassung beantragt. Nach Urteilszustellung an den Verteidiger am 27.12.2005 hat er den Zulassungsantrag mit am 26.01.2006 bei dem Amtsgericht Essen eingegangenem Schreiben vom 24.01.2006 im Einzelnen begründet. Der Betroffene rügt die Verletzung rechtlichen Gehörs u.a. durch die Ablehnung des von ihm gestellten Beweisantrages auf Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens.
II.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der Senat hat die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 Ziffer 2 OWiG zugelassen, da geboten ist, das angefochtene Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Das Amtsgericht hat das rechtliche Gehör des Betroffenen dadurch verletzt, dass es den Beweisantrag auf Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Fahrereigenschaft des Betroffenen aus offensichtlich unzulässigen verfahrensrechtlichen Gründen zurückgewiesen hat.
Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfG NJW-RR 1995, 441; NJW 1987, 485; ständige Rechtsprechung). Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die vom Fachgericht zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerfG, NJW-RR 1995, 441; NJW 1987, 485). Art. 103 Abs. 1 GG bietet allerdings keinen Schutz dagegen, dass ein angebotener Beweis aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht erhoben wird. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes verstößt nur dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (BVerfG, NJW-RR 1995, 241; NJW 1979, 413; NJW 1986, 833; BayVerfGH, BayVerwBl. 2005, 721; OLG Karlsruhe, DAR 2003, 182).
Nach diesen Maßstäben ist hier Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das Amtsgericht hat den Beweisantrag auf Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens mit einer Begründung abgelehnt, die im Prozessrecht keine Stütze findet.
Das Amtsgericht hat den Beweisantrag zusammengefasst mit der Begründung zurückgewiesen, das sich bei den Akten befindliche Beweisfoto sei aufgrund seiner schlechten Qualität zur Identifizierung des Fahrers durch einen anthropologischen Sachverständigen nicht geeignet. Mit dieser Begründung setzt das Amtsgericht sich aber in Widerspruch zu der Tatsache, dass es selbst den Betroffenen anhand des Beweisfotos jedenfalls in dem Sinne identifiziert hat, dass der dort abgebildete Fahrer dem Gesicht des Betroffenen sehr ähnlich sei. Wenn aber das abgebildete Gesicht dem Gesicht des Betroffenen bereits nach der Einschätzung des Amtsgerichts ähnlich war und wenn sich weiterhin jedenfalls doch einige charakteristische Unterscheidungsmerkmale aus dem Beweisfoto ergaben, wenngleich Teile des Gesichtes und des Kopfes des Betroffenen verdeckt waren, dann war gerade in besonderem Maße unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht, § 77 Abs. 1 OWiG, die Einholung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens zur Klärung der Identität des Betroffenen als Fahrzeugführer geboten (vgl. Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 77 Rdnr. 6 m.w.N.).
Die damit gebotene Beweiserhebung konnte das Amtsgericht nicht unter Hinweis darauf ablehnen, dass die Verteidigung versuche, das Verfahren „zu torpedieren“. Diesen Gesichtspunkt hätte das Amtsgericht allein nach § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG berücksichtigen können, wenn nämlich der Beweisantrag aus seiner Sicht ohne verständigen Grund so spät vorgebracht worden wäre, dass die Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen würde. Mit dieser denkbaren Ablehnungsbegründung hat sich das Amtsgericht aber gerade nicht auseinandergesetzt. Die Voraussetzungen hierfür lagen im Übrigen auch nicht vor, da der Betroffene bereits vor dem Hauptverhandlungstermin seine Fahrereigenschaft bestritten hatte. Das Amtsgericht hätte daher aus Gründen der Aufklärungspflicht gerade angesichts der dürftigen Qualität des sich bei den Akten befindlichen Beweisfotos rechtzeitig einen anthropologischen Sachverständigen zum Termin laden können, damit dieser dort sein Gutachten erstattet.
Im Ergebnis hat das Amtsgericht daher den Vortrag des Betroffenen, er sei nicht Fahrer des gemessenen Kraftfahrzeugs gewesen, aus nicht haltbaren prozessualen Erwägungen heraus übergangen. Dies verletzt den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Der Senat hat es als angemessen erachtet, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen zurückzuverweisen, § 79 Abs. 6 OWiG i.V.m. § 354 Abs. 2 StPO.