Zum Inhalt der Entscheidung: 1. Das Vorliegen von vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr kann nicht bereits aus einer hohen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit geschlossen werden
2. Bei hoher BAK muss das Gericht sich mit der Möglichkeit einer herabgesetzten Kritik- und Steuerungsfähigkeit und der dadurch bedingten Möglichkeit eines Nichterkennens der Fahruntüchtigkeit auseinandersetzen.
Oberlandesgericht Hamm
Beschluss vom 16.02.2012
Aus den Gründen
Das Amtsgericht hat die bereits mehrfach aufgrund von Straßenverkehrsdelikten – hierbei überwiegend im Zusammenhang mit Trunkenheitsfahrten – vorbestrafte Angeklagte wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt und angeordnet, dass der Angeklagten für die Dauer von drei Jahren keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Auf die Berufung der Angeklagten hat das Landgericht unter Verwerfung des Rechtsmittels im Übrigen die Freiheitsstrafe auf sechs Monate – wiederum ohne Strafaussetzung zur Bewährung – herabgesetzt und folgende Feststellungen zur Tat getroffen:
„Die Angeklagte ist, seitdem ihr am 18. März 2009 die Fahrerlaubnis vorläufig und aufgrund der Verurteilung vom 9. September 2010 endgültig entzogen worden ist, nicht mehr im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis. Obwohl der Angeklagten dies bekannt ist, ist sie zumindest noch bis zum 3. April 2011 Halterin eines Pkw (…) mit dem amtlichen Kennzeichen (…) geblieben.
Am 2. April 2011 hatte die Angeklagte die Rechnung des Bestattungsinstitutes über die Beerdigungskosten ihres am (…) verstorbenen Vaters erhalten. Diese Rechnung war höher ausgefallen, als sie es erwartet hatte. Aus diesem Grund hatte sie nach Erhalt der Rechnung ein längeres Gespräch mit ihrer Mutter geführt. Nach diesem Gespräch ist nach den Angaben der Angeklagten all das zum Ausbruch gekommen, was sie in den letzten Monaten insbesondere im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters ,in sich hineingefressen habe‘. Sie habe deshalb zum ersten Mal nach ihrer Trunkenheitsfahrt vom 2. Juli 2010 wieder Alkohol zu sich genommen.
Zu der Alkoholaufnahme kam es, nachdem die Angeklagte sich am frühen Abend des 2. April 2011 in ihren Pkw gesetzt hatte und mit diesem Fahrzeug in ein Lokal gefahren war. In diesem Lokal konsumierte die Angeklagte im Verlaufe des Abends und der frühen Morgenstunden des 3. April 2011 in einem erheblichen Umfang alkoholische Getränke, wobei nicht mehr festgestellt werden konnte, welche Art von Getränken die Angeklagte zu sich genommen hat. Obwohl die Angeklagte genau wusste, wie sie auf den Genuss alkoholischer Getränke reagiert und dass sie in erheblichem Umfang alkoholisiert und deshalb fahruntüchtig war, setzte sie sich gegen 1.30 Uhr wiederum in ihren eigenen Pkw, um nach Hause zu fahren.
Nachdem sie eine Fahrstrecke von ca. 3 – 4 km zurückgelegt hatte, befuhr sie um 1.44 Uhr, aus Richtung Innenstadt (…) kommend, die (…). Dort wurden die Polizeibeamten (…) auf das Fahrzeug der Angeklagten aufmerksam, als sie sich diesem von hinten näherten. Bei der Annäherung des Streifenwagens fuhr die Angeklagte plötzlich von der rechten Fahrspur nach links auf den dortigen Gehweg, wo sie ihren Pkw sodann, mit zwei Rädern auf dem Gehweg stehend, anhielt. Die Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt zwar deutlich und erheblich alkoholisiert. Sie war jedoch nicht volltrunken. Als die beiden Polizeibeamten sie unmittelbar nach ihrem Anhalten kontrollieren wollten, rutschte die Angeklagte, die alleinige Insassin des Fahrzeugs war, vom Fahrersitz auf den Beifahrersitz. Den sie kontrollierenden Polizeibeamten erklärte sie sofort aufgeregt, dass nicht sie, sondern ihr Bekannter, der den Wagen gerade verlassen habe, das Fahrzeug gefahren habe. Die Angeklagte stieg aus dem Fahrzeug aus und blieb zunächst neben ihrem Pkw stehen. Auch wenn sie sich zwischendurch mal an das Fahrzeug anlehnte, so war sie in der Lage, allein zu stehen und später auch allein zu gehen. Die Angeklagte wollte keine Angaben zu ihrer Person machen. Sie reagierte auf die Kontrolle auch sofort in einer aggressiven Art und Weise. Obwohl sie eigentlich mit den Polizeibeamten nicht sprechen wollte, schrie sie diese laut und mit deutlicher Stimme an. Sie ging auch mit erhobenen Händen aufgebracht auf die Polizeibeamten zu, die ihr daraufhin zur Eigensicherung Handschellen anlegten. Einen ihr angebotenen Alkoholtest lehnte die Angeklagte ab. Sie war auch mit der Entnahme einer Blutprobe nicht einverstanden, so dass unmittelbar darauf eine richterliche Anordnung der Blutentnahme durch das Amtsgericht Detmold eingeholt wurde. Während ihrer Zuführung zur Polizeiwache C verhielt die Angeklagte sich weiterhin äußerst aggressiv. Sie beschimpfte die Zeugin (…) und den Polizeibeamten (…). Außerdem bespuckte die Angeklagte die Zeugin (…) und traf sie dabei auf der Jacke im Brustbereich und auf der Hose.
Auf der Polizeiwache machte die Angeklagte gegenüber dem Arzt (…) keine Angaben. Der Arzt nahm in seinen Arztbericht vom 3. April 2011 zum Zustand der Angeklagten folgende Angaben auf: „Denkablauf verworren, Verhalten redselig, Stimmung gereizt“. Die der Angeklagten um 2.50 Uhr entnommene Blutprobe ergab im Mittelwert eine Blutalkoholkonzentration von 2,39‰.“
Mit ihrer Revision rügt die Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts.
II.
Das Rechtsmittel der Angeklagten hat (vorläufig) Erfolg.
1. Bereits die Formulierung der Beweiswürdigung begegnet Bedenken. Zu den Angaben der Angeklagten und der Zeugin (…) zum Tathergang führt das Landgericht Folgendes aus:
„Die tatsächlichen Feststellungen beruhen – soweit es das Geschehen bis zum Alkoholgenuss im Lokal und die bis zur Polizeikontrolle zurückgelegte Fahrstrecke betrifft – auf den eigenen Angaben der Angeklagten. Die Feststellungen zu dem weiteren Tatgeschehen beruhen auf der glaubhaften Bekundung der Zeugin L, dem verlesenen Blutentnahmeprotokoll vom 3. April 2011, dem ärztlichen Bericht vom 3. April 2011 und dem Blutalkoholgutachten vom 5. April 2011 sowie den in Augenschein genommenen Lichtbildern. Die Angeklagte und die Zeugin (…) haben das Tatgeschehen insoweit glaubhaft so geschildert, wie es festgestellt worden ist. Die Angeklagte hat außerdem die Bekundung der Zeugin (…) bestätigt, dass sie alleinige Insassin ihres Pkw war. An das übrige Tatgeschehen hat die Angeklagte nach ihren Angaben keine Erinnerung mehr“.
Diese Darstellung lässt zumindest Interpretationsspielräume zu der Frage bestehen, welche Angaben die Angeklagte zu dem Tatgeschehen ab dem Trinkbeginn in der Gaststätte gemacht hat. Insbesondere wird nicht ohne Weiteres deutlich, ob die Angeklagte Angaben zum Zeitpunkt des Fahrtbeginns nach dem Verlassen der Gaststätte gemacht oder ob sie lediglich erklärt hat, sie habe bis zur Polizeikontrolle eine Fahrstrecke von ca. drei bis vier Kilometern zurückgelegt, und die Feststellung zum Fahrtbeginn auf einer Rückrechnung durch die Strafkammer beruht. Es kann allerdings dahinstehen, ob bereits die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen des Landgerichts einen sachlich-rechtlichen Mangel des angefochtenen Urteils begründen.
2. Denn entscheidend für den (vorläufigen) Erfolg der Revision ist, dass die Darlegungen in den Urteilsgründen den Schuldspruch wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 StGB) nicht zu tragen vermögen.
a) Eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr setzt voraus, dass der Fahrzeugführer seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit kennt oder zumindest mit ihr rechnet und sie billigend in Kauf nimmt (Senat, Beschluss vom 26. April 2004 – 3 Ss 77/04 – <NRWE> m.w.N.). Die Feststellung der Kenntnis der Fahruntüchtigkeit (innere Tatsache) hat der Tatrichter auf der Grundlage des Ergebnisses der Hauptverhandlung und der Heranziehung und Würdigung aller Umstände zu treffen. Bei einem insoweit nicht geständigen Angeklagten – der Senat vermag angesichts der oben zitierten Formulierungen in der Beweiswürdigung nicht davon auszugehen, dass die Angeklagte die Kenntnis von ihrer Fahruntüchtigkeit eingeräumt hat – müssen die für die Überzeugungsbildung des Tatgerichts verwendeten Beweisanzeichen lückenlos zusammengefügt und unter allen für ihre Beurteilung maßgebenden Gesichtspunkten gewürdigt werden (Senat, a.a.O.). Nur so wird dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglicht, ob der Beweis der Schuldform (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) schlüssig erbracht ist und alle gleich naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für und gegen den Angeklagten geprüft worden sind (Senat, a.a.O.).
Nach der wohl einhelligen Meinung der Oberlandesgerichte kann das Vorliegen von vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr nicht bereits aus einer hohen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit geschlossen werden (Senat, a.a.O.; NJW 1969, 1587). Es gibt nämlich nach wie vor keinen Erfahrungssatz, dass derjenige, der in erheblichen Mengen Alkohol getrunken hat, seine Fahruntüchtigkeit kennt (Senat, a.a.O.). Vielmehr müssen weitere auf die vorsätzliche Tatbegehung hinweisende Umstände hinzutreten (Senat, Beschluss vom 26. April 2004 – 3 Ss 77/04 – <NRWE>). Dabei kommt es auf die vom Tatrichter näher festzustellende Erkenntnisfähigkeit des Fahrzeugführers bei Fahrtantritt an (Senat, a.a.O. m.w.N.). Für die Annahme vorsätzlicher Begehung bedarf es deshalb der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere – soweit feststellbar – der Täterpersönlichkeit, des Trinkverlaufs, des Zusammenhanges zwischen Trinkverlauf und dem Fahrtantritt sowie des Verhaltens des Täters während und nach der Tat (Senat, a.a.O. m.w.N.). Bei einer hohen Blutalkoholkonzentration treten nämlich zwar häufig Ausfallerscheinungen auf, die eine Kenntnis des Fahrers von seiner Fahruntüchtigkeit nahe legen (Senat, a.a.O). Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass bei fortschreitender Trunkenheit das kritische Bewusstsein und die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung abnehmen, das subjektive Leistungsgefühl des Alkoholisierten hingegen infolge der Alkoholeinwirkung häufig gesteigert wird mit der Folge, dass der Fahrer seine Fahruntüchtigkeit falsch einschätzt (Senat, a.a.O. m.w.N.).
b) Diesen Anforderungen werden die Darlegungen des Landgerichts nicht gerecht. Es stützt die Annahme vorsätzlicher Tatbegehung auf die einschlägigen strafrechtlichen Vorbelastungen der Angeklagten, die ärztlichen Behandlungen und Therapien ihres übermäßigen Alkoholkonsums und den Umstand, dass sie sich gleichwohl am Abend des 2. April 2011 mit ihrem Pkw zu einer Gaststätte begeben und dort über mehrere Stunden alkoholische Getränke zu sich genommen hat. Zutreffend hat das Landgericht hierin Beweisanzeichen für eine vorsätzliche Tatbestandsverwirklichung gesehen. Die Strafkammer hat sich indes rechtsfehlerhaft nicht mit der naheliegenden Möglichkeit auseinandergesetzt, dass die Erkenntnis- und Kritikfähigkeit der Angeklagten aufgrund ihrer fortgeschrittenen Alkoholisierung zum Zeitpunkt des Fahrtantrittes so weit herabgesetzt war, dass sie ihre Fahruntüchtigkeit tatsächlich nicht mehr erkannt hat.
aa) Hierfür spricht zunächst der hohe Grad der Alkoholisierung der Angeklagten. Für die Prüfung der Erkenntnis- und Kritikfähigkeit der Angeklagten zum Zeitpunkt des Fahrtantrittes ist bei der Bestimmung der Blutalkoholkonzentration (BAK) zu ihren Gunsten von einem maximalen BAK-Wert auszugehen. Damit sind im Falle der Entnahme und Untersuchung einer Blutprobe die gleichen Rückrechnungsgrundsätze wie bei der Prüfung der Schuldfähigkeit anzuwenden. Es sind demnach ein stündlicher Abbauwert von 0,2‰ sowie ein einmaliger Sicherheitszuschlag von 0,2‰ zu berücksichtigen (vgl. Fischer, StGB, 59. Aufl. [2012], § 20 Rdnr. 13). Da die Blutprobe im vorliegenden Falle etwa eineinhalb Stunden nach dem Fahrtbeginn entnommen wurde, ist von einer Tatzeit-BAK von 2,89‰ auszugehen. Dieser Wert liegt schon nahe an dem Wert von 3‰, der nach gefestigter Rechtsprechung in der Regel sogar Anlass für die Prüfung einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit ist (vgl. die Nachweise bei Fischer, a.a.O., Rdnr. 20).
Weitere Indizien für eine Herabsetzung der Erkenntnis- und Kritikfähigkeit der Angeklagten zum Zeitpunkt des Fahrtantrittes sind darüber hinaus ihr Verhalten während der Polizeikontrolle, namentlich der wenig durchdacht und wenig erfolgversprechend erscheinende Versuch, der Polizei einen nicht existierenden „Bekannten“ als Fahrer zu präsentieren, sowie ihr sowohl verbal als auch physisch aggressives Verhalten gegenüber den Polizeibeamten, und schließlich auch die Feststellung des sie auf der Polizeiwache untersuchenden Arztes, ihr Denkablauf sei verworren.
bb) Die vorbezeichneten Umstände hätten eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer der vorsätzlichen Tatbegehung entgegenstehenden Herabsetzung der Erkenntnis- und Kritikfähigkeit der Angeklagten zum Zeitpunkt des Fahrtantrittes erforderlich gemacht. Entsprechende Darlegungen finden sich in dem angefochtenen Urteil indes nicht. Der Hinweis auf die einschlägigen Vorstrafen und die Alkoholtherapien der Angeklagten vermag die erforderlichen Darlegungen zur Erkenntnis- und Kritikfähigkeit nicht entbehrlich zu machen. Warum die Therapiemaßnahmen die Angeklagte in die Lage versetzt haben, auch bei einer derart hohen BAK wie im vorliegenden Falle ihre Fahruntüchtigkeit zweifelsfrei zu erkennen, ergibt sich aus dem Urteil nicht. Gleiches gilt im Ergebnis für die einschlägigen strafrechtlichen Vorbe-lastungen der Angeklagten. Sie ist zwar nach den Urteilsfeststellungen schon zweimal wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr und einmal wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu Freiheitsstrafen – jeweils unter Strafaussetzung zur Bewährung – verurteilt worden. Die diesen Verurteilungen zugrundeliegenden und im angefochtenen Urteil mitgeteilten Sachverhalte sind mit der vorliegenden Fallkonstellation indes nicht vergleichbar, weil die BAK bei den früheren Taten jeweils deutlich unter dem hier festgestellten Wert lag.
3. Wegen des aufgezeigten Mangels ist das angefochtene Urteil nach § 353 StPO mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Detmold zurückzuverweisen.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass es sinnvoll erscheint, den Arzt (…), der die Angeklagte am frühen Morgen des 3. April 2011 untersucht und ihren Denkablauf als „verworren“ bezeichnet hat, als Zeugen zu hören und gegebenenfalls einen rechtsmedizinischen Sachverständigen zur Untersuchung der Erkenntnis- und Kritikfähigkeit der Angeklagten zum Tatzeitpunkt hinzuzuziehen.