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BGH – Beschluss v. 29.11.79

Amtliche Leitsätze: a) Welche Anforderungen an die Rechtspflicht der unverzüglichen Ermöglichung nachträglicher Feststellungen zu stellen sind, ist unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 142 StGB nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen.

b) Ein Unfallbeteiligter, der sich nach Ablauf der Wartefrist von der Unfallstelle entfernt, kann frei entscheiden, auf welchem Wege er die nachträglichen Feststellungen ermöglichen will, vorausgesetzt, daß er mit der Entscheidung dem Unverzüglichkeitsgebot des § 142 Abs. 2 StGB gerecht werden kann.

 

Bundesgerichtshof

Beschluss vom 29.11.1979

4 StR 624/78

Aus den Gründen:

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt. Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Angeklagte steuerte an einem Sonntagmorgen gegen 4,00 Uhr seinen Pkw durch die Straßen seines Wohnorts. Infolge überhöhter Geschwindigkeit wurde das Fahrzeug in einer Rechtskurve nach links über die Fahrbahnmitte getragen. Es kam dabei ins Schleudern, geriet trotz starken Bremsens über den Gehweg der linken Fahrbahnseite, prallte dort gegen den Mast einer Straßenlaterne, so daß dieser umknickte und die Lampe auf dem Gehweg zerschellte, und wurde schließlich gegen eine Gartenumzäunung geschleudert, die dabei auf einer Länge von 4 m beschädigt wurde. Das erheblich beschädigte Fahrzeug machte der Angeklagte durch einen Reifenwechsel und das Zurückbiegen eines Kotflügels so weit fahrbereit, daß er, nachdem er sich „insgesamt … etwa eine halbe bis dreiviertel Stunde“ am Unfallort aufgehalten hatte, nach Hause fahren konnte. Am nächsten Morgen suchten ihn dort gegen 10,00 Uhr – von dritter Seite verständigte – Polizeibeamte auf, denen gegenüber er sofort einräumte, den Unfall verursacht zu haben.

In der Hauptverhandlung hat sich der Angeklagte dahin eingelassen, er habe in der Nacht zunächst nur die Beschädigung der Laterne wahrgenommen, nicht auch die des Zaunes; „am nächsten Morgen“ habe er sich „zusammen mit seinem Vater zur Unfallstelle begeben wollen, um sich den Umfang des angerichteten Schadens zu besehen und sich danach an die Geschädigten zu wenden“.

Das Amtsgericht meint, der Angeklagte habe sich zwar erst nach Ablauf der Wartefrist des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB vom Unfallort entfernt, er habe jedoch „die notwendigen Feststellungen nicht unverzüglich nachträglich ermöglicht“. Es sieht deshalb den Tatbestand des § 142 Abs. 2 StGB als gegeben an. Das Oberlandesgericht Hamm, das über die Revision des Angeklagten zu entscheiden hat, tritt dieser Ansicht – im Ergebnis – bei. Es ist der Auffassung, der Angeklagte hätte „sich bereits nach ca. 3 bis 4 Stunden bei der Polizei oder aber bei der Geschädigten selbst“ melden müssen; falls „die Geschädigte zu dieser frühen Stunde nicht erreichbar gewesen wäre“, hätte er sich „unmittelbar an die Polizei wenden müssen“, er habe somit nur ein „eingeschränktes Wahlrecht“ gehabt. Das Oberlandesgericht beabsichtigt deshalb, die Revision zu verwerfen. Es sieht sich daran jedoch gehindert durch das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf in VRS 54, 41 (ebenso OLG Frankfurt VRS 51, 283), nach welchem „sich das Merkmal der Unverzüglichkeit ausschließlich auf die jeweils vom Schädiger gewählte Art, die Feststellungen zu ermöglichen, bezieht und nicht das Wahlrecht des Täters einschränkt“ und das deshalb zu dem Ergebnis gelangt, daß ein Unfallbeteiligter, der sich bei einem nächtlichen Unfall nach „angemessener Wartezeit von der Unfallstelle entfernt und nicht alsbald die Polizei, sondern am nächsten Morgen (ggf. am nächsten Werktagsmorgen) den Geschädigten benachrichtigt oder ihn zu benachrichtigen beabsichtigt“, nicht gegen § 142 Abs. 2 StGB verstoße.

Das Oberlandesgericht Hamm hat deshalb die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

„Bezieht sich das Merkmal ‚unverzüglich‘ nur auf die vom Schädiger gewählte Art, Feststellungen zu ermöglichen, oder tritt unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles eine Beschränkung des Wahlrechts auf jenen Weg ein, der alsbaldige Feststellungen ermöglicht?“

Der Generalbundesanwalt beantragt, die Sache an das vorlegende Oberlandesgericht zurückzugeben, weil der festgestellte Sachverhalt wesentlich anders gelagert sei als der, welcher der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf zugrunde liege, und es deshalb auf diese Entscheidung hier nicht ankomme. In der Sache tritt er der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Hamm bei.

II.

Die Vorlegung ist nach § 121 Abs. 2 GVG trotz der Unterschiedlichkeit beider Fälle im tatsächlichen, auf die der Generalbundesanwalt zutreffend hinweist, im Hinblick auf die grundsätzliche Fassung der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Düsseldorf, auf welcher dessen Urteil auch beruht, zulässig.

III.

In der Sache ist die hier aufgeworfene Rechtsfrage dahin zu beantworten, daß der Unfallbeteiligte, der sich nach Ablauf der Wartefrist von der Unfallstelle entfernt, frei entscheiden kann, auf welchem Weg er die nachträglichen Feststellungen ermöglichen will; der eingeschlagene Weg muß aber dem nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilenden Unverzüglichkeitsgebot des § 142 Abs. 2 StGB gerecht werden.

1.

Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 3. Oktober 1978 (VRS 55, 420/421) dargelegt, daß die Frage, welche Anforderungen an die Rechtspflicht der unverzüglichen Ermöglichung nachträglicher Feststellungen im Sinne des § 142 Abs. 2 StGB zu stellen sind, nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist, insbesondere der Art und Zeit des Unfalls sowie der Höhe des verursachten Fremdschadens. Da diese Umstände von Fall zu Fall verschieden sind, kann die Frage, was unter „unverzüglich“ im Sinne dieser Vorschrift zu verstehen ist, grundsätzlich nicht einheitlich beantwortet werden.

Das gilt notwendig, wie der Senat in der genannten Entscheidung ebenfalls bereits dargetan hat, auch für die Frage, auf welchem Wege die Feststellungen nachträglich zu ermöglichen sind. § 142 StGB enthält insoweit keine abschließende Regelung. Die in Abs. 3 dieser Bestimmung aufgezeigten beiden Möglichkeiten – Benachrichtigung des Berechtigten oder einer nahe gelegenen Polizeidienststelle – sind nur beispielhaft und als Mindestvoraussetzungen zu verstehen, deren Erfüllung in jedem Fall ausreicht (vgl. BT-Drucks. 7/2434 II Nr. 4; Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl., § 142 StGB Rdn. 48, 53; Dreher/Tröndle, 38. Aufl., § 142 StGB Rdn. 46; Lackner, 12. Aufl., § 142 StGB Anm. 5 d jeweils mit weiteren Nachweisen). Grundsätzlich kann deshalb in jedem Einzelfall der Unfallbeteiligte frei entscheiden, auf welchem Weg er die nachträglichen Feststellungen ermöglichen will, Voraussetzung ist nur, daß dieser Weg die Feststellungen „unverzüglich“ möglich macht.

2.

Was in dem jeweiligen Einzelfall als „unverzüglich“ anzusehen ist, kann nur unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 142 StGB beurteilt werden. Insoweit geht das vorlegende Oberlandesgericht, wie auch das Oberlandesgericht Düsseldorf, zutreffend davon aus, daß diese Vorschrift das Ziel verfolgt, die privaten Interessen der Unfallbeteiligten und Geschädigten zu schützen, insbesondere die ihnen aus dem Verkehrsunfall erwachsenen zivilrechtlichen Ansprüche zu sichern und dem Verlust von Beweismitteln zu begegnen (vgl. BT-Drucks. 7/2434 I Nr. 1; Jagusch a.a.O. Rdn. 20; Rudolphi in SK § 142 StGB Rdn. 36; OLG Hamm VRS 52, 416; OLG Stuttgart VRS 54, 352). Diesem Zweck sind andere, ebenfalls schutzwürdige Interessen untergeordnet. So muß insbesondere das Interesse des Täters an einer straflosen Selbstbegünstigung zurücktreten, auch wenn sein Tun nur darauf gerichtet ist, sich der Strafverfolgung zu entziehen, und die Gefährdung zivilrechtlicher Interessen anderer Unfallbeteiligter und Geschädigter nur eine unvermeidbare, vielleicht sogar unerwünschte Nebenwirkung ist (vgl. BT-Drucks. 7/2434 a.a.O.; Jagusch a.a.O. Rdn. 20). Deshalb ist die Frage, ob die Mitteilung unverzüglich erfolgt, grundsätzlich unabhängig davon zu beurteilen, auf welchem Wege sie ergeht und aus welchem Grund der Unfallbeteiligte sich gerade für diesen Weg entschlossen hat; maßgebend ist vielmehr allein, ob der eingeschlagene Weg dem Unverzüglichkeitsgebot gerecht wird.

Das kann, je nach den Umständen des Einzelfalles, dazu führen, daß dem Unfallbeteiligten, der die Einschaltung der Polizei oder einer anderen Person vermeiden will und sich deshalb unmittelbar an den Geschädigten wenden möchte, dieser Weg verschlossen ist, weil er den Geschädigten nicht innerhalb einer Frist, die diesem Gebot gerecht wird, erreichen kann. Umgekehrt kann das Unverzüglichkeitsgebot aber auch erfordern, daß er sich, wenn die Polizei oder sonstige feststellungsbereite Personen nicht innerhalb dieser Frist erreichbar sind, unmittelbar an den Geschädigten wenden muß, auch wenn er dies vermeiden möchte.

3.

Daß die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar ist, bedarf danach keiner weiteren Erörterung.

Die in diesem Urteil weiter vorgebrachten Überlegungen können zu keiner anderen Beurteilung führen. Daß die Mitteilung an die Polizei durch den schuldigen Unfallverursacher, der weder den Geschädigten noch andere feststellungsbereite Personen zu erreichen vermag, einem „Zwang zur Selbstanzeige“ gleichkommen kann, muß angesichts des dargelegten Gesetzeszwecks, dem das Interesse des Unfallbeteiligten zu strafloser Selbstbegünstigung untergeordnet ist, ebenso in Kauf genommen werden, wie die Folge, daß danach in zahlreichen Fällen überhaupt nur die Benachrichtigung der Polizei in Betracht kommen wird. Es ist im übrigen nicht – wie das Oberlandesgericht Düsseldorf meint – widersinnig, daß nach den hier dargelegten Grundsätzen ein Unfallbeteiligter noch unverzüglich handelt, wenn er nach einem nächtlichen Unfall, bei welchem er öffentliches Eigentum beschädigt hat, „bis zum anderen Morgen in seinem Kraftfahrzeug sitzen“ bleibt und danach sogleich den Geschädigten benachrichtigt, während er sich, wenn er nach angemessener Wartezeit den Unfallort verläßt und die Umstände es erfordern, unmittelbar an die Polizei wenden muß, „weil öffentliche Behörden nachts nicht besetzt sind“. Denn solange er am Unfallort bleibt, steht er dort – wie § 142 Abs. 1 StGB es verlangt – für die erforderlichen Feststellungen zur Verfügung. Das Unverzüglichkeitsgebot des § 142 Abs. 2 StGB soll nur gewährleisten, daß die Feststellungen noch vorgenommen werden können, wenn der Unfallbeteiligte nicht mehr am Unfallort anwesend ist und sie deshalb ohne seine Mithilfe nicht möglich oder jedenfalls erschwert wären.

4.

Daß der Angeklagte sich nach seiner Einlassung auch eines Verstoßes gegen § 34 Abs. 1 Nr. 3 StVO schuldig gemacht hätte, weil er seiner Pflicht, sich sofort umfassend über die Unfallfolgen zu vergewissern, nicht nachgekommen ist, berührt die Entscheidung über die vorgelegte Rechtsfrage nicht. Diese ist vielmehr, wie aus der Beschlußformel ersichtlich, zu beantworten. Die in dem Vorlegungsbeschluß – in Anlehnung an die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf – gebrauchten Begriffe des „eingeschränkten Wahlrechts“ und der „Beschränkung des Wahlrechts“, die dem Gesetz fremd und zudem unklar und mißverständlich sind, sollten tunlichst vermieden werden.

(…)