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OLG Hamm – Beschluss vom 12.03.09

Zum Inhalt der Entscheidung: Es ist gesetzlich nicht ausgeschlossen, dass sich ein Gericht die notwendige Überzeugung von einem qualifizierten Rotlichtverstoß über eine Schätzung eines Zeugen verschafft. Es genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Kommen die mit der Messung befaßten Polizeibeamten durch Zählen („einundzwanzig, zweiundzwanzig“) zu dem Schätzergebnis, dass die Rotlichtphase schon zwei Sekunden andauerte, so bleiben keine vernünftigen Zweifel, dass die Rotphase jedenfalls mehr als eine Sekunde andauerte.

Oberlandesgericht Hamm

Beschluss vom 12.03.2009

3 Ss OWi 55/09

Aus den Gründen:

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen fahrlässiger Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens (Rotlichtverstoß von mehr als einer Sekunde) zu einer Geldbuße von 187,50 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot (unter Gewährung der sog. „Viermonatsfrist“) angeordnet (§§ 37 Abs. 2, 49 StVO, 24, 25 Abs. 2a StVG).

Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde und rügt die Verletzung materiellen Rechts.

II.

Die Sache war zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu übertragen (§ 80a Abs. 3 OWiG). Die Frage, ob ein qualifizierter Rotlichtverstoß (Nr. 132.2. BKatV) bei einer gezielten Ampelüberwachung aufgrund einer Schätzung eines Polizeibeamten, die auf Mitzählen („eiundzwanzig, zweiundzwanzig“) basiert, festgestellt werden kann, wird innerhalb des Oberlandesgerichts unterschiedlich beantwortet. Der seinerzeitige 5. Senat für Bußgeldsachen verneinte dies generell (NZV 2001, 177), während der erkennende Senat dies grundsätzlich bejaht (NZV 2002, 577 und Beschl. v. 24.09.2007 – 3 SsOWi 620/07). Bei dieser Entscheidung handelt es sich um eine solche des Einzelrichters Q.

III.

Die zulässig erhobene Rechtsbeschwerde war als unbegründet zu verwerfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Beschwerderechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 349 Abs. 2 StPO).

Näherer Erörterung bedarf lediglich, ob die Feststellung, dass die Lichtzeichenanlage bei Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen bereits mehr als eine Sekunde „rot“ zeigte, von der Beweiswürdigung getragen wird.

Darin heißt es, dass der Zeuge T, ein Polizeibeamter, am Tattage am Tatort eine gezielte Rotlichtüberwachung durchführte. Aufgrund seiner Aufzeichnungen (an den Vorfall selbst hatte er keine Erinnerung mehr) gab er an, dass er ca. 12 -13 Meter entfernt von der Haltelinie gestanden und freie Sicht auf die Ampelanlage gehabt habe. Zum Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie durch den Betroffenen habe die Ampel schon zwei Sekunden „rot“ gezeigt. Er habe beim Umspringen der Ampel auf „rot“ in Gedanken die Sekunden in Form von Zahlen von 21 an aufwärts gezählt und habe so die Zeit, die bis zum Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen verstrichen war, schätzen können. Er setze die Dauer der Rotphase eher zu niedrig als zu hoch an.

Grundsätzlich kann – jedenfalls bei einer gezielten Ampelüberwachung – die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes aufgrund der Schätzung von Polizeibeamten festgestellt werden, wenn der Polizeibeamte durch Zählen („einundzwanzig, zweiundzwanzig“) zu einer Schätzung gelangt, wonach die Rotlichtphase bei Überfahren der Haltelinie schon mindestens zwei Sekunden andauerte. Diese Schätzung muss aber für das Tatgericht und das Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar sein. Deswegen muss das tatrichterliche Urteil Feststellungen dazu enthalten, nach welcher Methode die Zeit geschätzt wurde und Angaben zum Ablauf des Rotlichtverstoßes, zur Entfernung des Fahrzeugs zur Lichtzeichenanlage und zu einer ggf. vorhandenen Haltelinie treffen (OLG Hamm Beschl. v. 24.09.2007 – 3 SsOWi 620/07 – juris; OLG Hamm NZV 2002, 577; OLG Düsseldorf VRS 93, 462, 463 f.; OLG Hamburg NZV 2005, 209, 210; OLG Köln VRS 106, 214, 215; vgl. auch OLG Jena Beschl. v. 29.10.2003 – 1 Ss 138/03 – juris).

Entgegen der vom seinerzeitigen 5. Senat für Bußgeldsachen vertretenen Ansicht, dass bei qualifizierten Rotlichtverstößen auch bei gezielter Ampelüberwachung eine Schätzung durch Zählen nicht ausreiche (NZV 2001, 177, 178), ist der erkennende Senat der Ansicht, dass dies durchaus der Fall sein kann, wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

Es ist gesetzlich nicht ausgeschlossen, dass sich ein Gericht die notwendige Überzeugung von einem qualifizierten Rotlichtverstoß über eine Schätzung eines Zeugen verschafft. Es muss lediglich – nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 261 StPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheiden. Es genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen (BGH NStZ-RR 2005, 149; BGH NStZ 1988, 236; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 261 Rdn. 2 m.w.N.). Es gibt keinen Grund, warum der Tatrichter sich diese Überzeugung nicht aufgrund einer Schätzung eines Polizeibeamten unter Einhaltung der oben genannten Voraussetzungen verschaffen können sollte. Eine Schätzung ist zwar mit Unsicherheiten versehen. Indes sind diese bei Einhaltung der dargestellten Voraussetzungen soweit ausgeschaltet, dass ein ausreichendes Maß an Sicherheit erreicht wird. Bei einer gezielten Rotlichtüberwachung ist den tätigen Polizeibeamten bekannt, worauf es ankommt. Ihre Wahrnehmung ist daher entsprechend geschärft. Kommen sie durch Zählen („einundzwanzig, zweiundzwanzig“) zu dem Schätzergebnis, dass die Rotlichtphase schon zwei Sekunden andauerte, so bleiben keine vernünftigen Zweifel, dass die Rotphase jedenfalls mehr als eine Sekunde andauerte.

Etwaigen Schätzungenauigkeiten wird durch das Erfordernis, dass durch die Methode des Nachzählens mindestens eine Rotphase von zwei Sekunden (jede der gedanklich ausgesprochenen Zahlen „einundzwanzig, zweiundzwanzig“ entspricht bei normaler Sprechgeschwindigkeit – wenigstens – einer Sekunde) geschätzt werden muss, hinreichend Rechnung getragen. Da die Polizeibeamten bei einer gezielten Rotlichtüberwachung wissen, worauf es ankommt, ist ausgeschlossen, dass sie schon vor Umspringen der Ampelanlage auf „rot“ zu zählen beginnen. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund für die Annahme, dass der Beamte, der unter besonderen Strafandrohung des § 344 Abs. 2 S. 2 StGB steht, etwa durch bewusstes besonders schnelles Zählen versucht, einen Autofahrer zu Unrecht wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes zu belangen. Ein unbewusstes zu schnelles Zählen kann angesichts von Ausbildung bzw. Erfahrung des Beamten und angesichts des Umstandes, dass, er bei einer gezielten Rotlichtüberwachung weiß, worauf es ankommt und seine Wahrnehmung besonders geschärft ist, ebenfalls ausgeschlossen werden. Ist darüber hinaus auch ihre Beobachtungsposition so, dass sie sowohl Ampel, als auch den Vorbereich und die Haltelinie im Blick haben, können keine Zweifel bestehen, dass wenn sie aufgrund der Zählmethode zu einer Schätzung von mindestes zwei Sekunden hinsichtlich des Andauerns der Rotlichtphase gelangen, diese jedenfalls mehr als eine Sekunde bis zu ihrem Überfahrenwerden angedauert hat.

Der Vorsitzende des (inzwischen wieder neu eingerichteten) 5. Strafsenats hat mitgeteilt, dass dort an der Rechtsprechung des früheren 5. Strafsenats nicht festgehalten wird. Auch die übrigen Strafsenate haben mitgeteilt, dass dort die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes im Rahmen einer gezielten Ampelüberwachung durch Zählen in der oben beschriebenen Weise für zulässig erachtet wird. Eine tragende Abweichung von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Brandenburg vom 03.08.1999 (2 SsOWi 101B/99 – juris) liegt nicht vor, da dort ein Schätzung auf der Grundlage von Zählen bis zur Zahl „dreiundzwanzig“ für ausreichend, nicht aber für zwingend erforderlich erachtet wurde. Auch der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 04.11.2002 (DAR 2003, 85) lässt sich nicht entnehmen, dass dort ein Zählen bis zur Zahl „dreiundzwanzig“ zwingend für erforderlich erachtet wird.

Die eingangs genannten Voraussetzungen für eine Feststellung des qualifizierten Rotlichtverstoßes aufgrund der Zählmethode sind hier eingehalten. Das Urteil teilt mit, dass es sich um eine gezielte Rotlichtüberwachungsmaßnahme handelte, das Vorhandensein einer Haltelinie, die Beobachtungsposition des Zeugen und dass dieser ca. 20 Meter vor der Ampel überblickte, wobei das Fahrzeug des Betroffenen, bei Umspringen der Ampel auf „rot“ noch gar nicht in seinem Blickfeld war, also noch weiter als 20 Meter entfernt gewesen sein muss. Das Urteil teilt zwar nicht ausdrücklich mit, dass der Zeuge bis „zweiundzwanzig“ zu Ende gezählt hat (vgl. dazu OLG Köln VRS 106, 214, 215 f.). Dies lässt sich jedoch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe hinreichend entnehmen, wenn es heißt, dass er eine Rotphase von zwei Sekunden durch Zählen von einundzwanzig aufwärts ermittelt habe.

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