Zum Inhalt der Entscheidung : Wenn die Dauer des Rotlichtphase einer Lichtzeichenanlage durch einen Zeugen geschätzt wird, kann dieser Schätzung nicht von vornherein ein Beweiswert abgesprochen werden. Es muss aber dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Zeitschätzungen wegen der Ungenauigkeit des menschlichen Zeitgefühls in der Regel mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet sind. Infolge dessen bedarf es in einem solchen Fall Ausführungen dazu, auf welcher Grundlage die Schätzung des Zeugen beruht, um dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung zu ermöglichen, ob die von dem Tatrichter angenommene Rotlichtzeit auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht.
Oberlandesgericht Hamm
Beschluss vom 08. November 2007
Aus den Gründen:
I.
Das Amtsgericht Herford hat gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens (Rotlichtverstoß) eine Geldbuße von 125,- € sowie ein einmonatiges Fahrverbot unter Gewährung von Vollstreckungsaufschub gemäß § 25 Abs. 2 a S. 1 StVG verhängt.
Zur Sache hat das Amtsgericht u.a. folgende Feststellungen getroffen:
„Der Betroffene hat sich nunmehr wegen folgenden Vorfalles zu verantworten. Der Betroffene befuhr am 05.08.2006 gegen 12.55 Uhr mit seinem Pkw der Marke BMW 528 I, amtl. Kennzeichen (…) die innerorts gelegene N-Straße in Fahrtrichtung Innenstadt. An der Kreuzungsanlage(…) musste der Betroffene bei Rotlicht anhalten. Nachdem er Grünlicht bekommen hatte, bog er nach links (…) ab. An dieser Kreuzungsanlage wollte der Betroffene nach rechts in Fahrtrichtung K-Straße abbiegen. Er benutzte deshalb eine der beiden Rechtsabbiegespuren. Beim Heranfahren an die Kreuzungsanlage C-Tor ging der Betroffene davon aus, dass er bei der Rechtsabbiegerspur Grünlicht erhalten werden, so wie ihm das von vielen früheren Fahrten her bekannt war. Der Betroffene wusste jedoch nicht, dass die Ampelschaltung an der Kreuzungsanlage C-Tor kurz zuvor geändert worden war. Die Ampelanlage für die Rechtsabbiegerspur zeigte deshalb schon einige Sekunden Rotlicht, als sich der Betroffene näherte. Auf dieses Rotlicht reagierte der Betroffene nicht. Er führ mit unverminderter Geschwindigkeit weiter und passierte die Ampelanlage, um sodann nach rechts auf die K-Str. abzubiegen. Zu diesem Zeitpunkt folgten die Polizeibeamten C und T dem Betroffenen in ihrem Funkstreifenwagen. Beide Polizeibeamte gingen davon aus, der Betroffene werde ganz normal vor der Ampelanlage an der Kreuzung C-Tor anhalten, weil die Ampelanlage bereits einige Sekunden Rotlicht zeigte. Die Polizeibeamten waren völlig überrascht, als der Betroffene mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfuhr und die Ampelanlage bei Rotlicht passierte. Sie folgten dem Betroffenen und hielten ihn kurz danach an und sprachen ihn auf den Rotlichtverstoß an. Der Betroffene äußerte nach ordnungsgemäßer Belehrung, er hätte schwören können, dass die Ampel Grünlicht gezeigt habe.“
Zur Beweiswürdigung hat das Amtsgericht u.a. Folgendes ausgeführt:
„Der Betroffene hat eingeräumt, den Pkw zum Vorfallszeitpunkt gefahren zu haben. Er ist der Auffassung, er habe die fragliche Ampelanlage an der Kreuzung C-Tor bei Grünlicht passiert. Jedenfalls habe er das Rotlicht einer Lichtzeichenanlage nicht bemerkt. Ihm sei bekannt gewesen, dass die Ampelanlage C-Tor immer dann Grünlicht gezeigt habe, wenn er zuvor von der N-Straße gekommen sei. Er sei also, wie immer, ganz normal auf die Ampelanlage zugefahren und sei dann nach rechts abgebogen. Wenn die Ampel tatsächlich Rotlicht gezeigt habe, müsse das auf ein „Augenblicksversagen“ zurückzuführen sein. Soweit die Polizeibeamten jetzt vorgetragen hätten, die Schaltung an der Ampel sei vor kurzem geändert worden, sei ihm das jedenfalls nicht bekannt gewesen.
Aufgrund der glaubhaften Aussage der Zeugin T steht zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass sich der Betroffene der Ampelanlage näherte, als diese schon einige Sekunden Rotlicht zeigte. Die Polizeibeamtin konnte sich an den Vorfall noch gut erinnern. Sie bekundete, dass sie völlig überrascht gewesen sei, als der Betroffene trotz einer eindeutigen Lichtzeichenanlage einfach weitergefahren sei und die Ampelanlage mit unverminderter Geschwindigkeit passiert habe. Die Polizeibeamtin befand sich mit ihrer Kollegin in ihrem Funkstreifenwagen direkt hinter dem Betroffenen und konnte ihm anschließend problemlos folgen und zur Rede stellen. Irgendwelche Zweifal an der Glaubwürdigkeit der Zeugin wurden nicht vorgetragen. Selbst der Betroffene stellte letzlich nicht in Abrede, dass die Ampel tatsächlich Rotlicht gezeigt habe, als er sie passiert hatte. Zu seiner Entlastung meinte er überwiegend, er habe jedenfalls das Rotlicht der Ampelanlage nicht bemerkt, weil er, wie bei früheren Fahrten, davon ausgegangen sei, dass die Ampel auf Grünlicht geschaltet habe. Damit steht fest, dass der Betroffene die Ampelanlage an der Kreuzung C-Tor passierte, obwohl diese schon seit einigen Sekunden Rotlicht zeigte. Es lag also ein deutlicher Rotlichtverstoß im qualifizierten Sinne mit einer Rotlichtzeit von mehr als einer Sekunde vor.“
Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der eine Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt wird.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat in der Sache zumindest vorläufig teilweise Erfolg.
1.
Die mit der Rechtsbeschwerde geltend gemachte Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht in der gemäß § 344 StPO gebotenen Form begründet worden und damit unzulässig.
2.
Der Schuldausspruch des angefochtenen Urteils – fahrlässige Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens gemäß §§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7, 49 StVO i.V.m. § 24 StVG – hat Rechtsfehler zu Lasten des Betroffenen nicht erkennen lassen. Insoweit war die Rechtsbeschwerde entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
Ein einfacher Rotlichtverstoß liegt vor, wenn gegen das Gebot des § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 – „Halt vor der Kreuzung!“ – verstoßen wird, ein Fahrzeugführer also bei Rotlicht in den durch die Lichtzeichenanlage gesicherten Bereich, im Regelfall den Kreuzungsbereich oder Einmündungsbereich, einfährt (vgl. BGH NJW 1999, 2978). Es bedurfte insbesondere zur Feststellung des – einfachen – Rotlichtverstoßes auch keiner weiteren Ausführungen dazu, wo sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug befunden hat, als die hier maßgebliche Lichtzeichenanlage auf Rotlicht umschlug, sowie, ob ihm ein rechtzeitiges Anhalten vor der Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage möglich gewesen wäre. Denn nach den Urteilsfeststellungen ereignete sich der dem Betroffenen zur Last gelegte Verkehrsverstoß innerorts. lnnerörtlich ist regelmäßig von einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h und einer Gelblichtphase von 3 Sekunden auszugehen (vgl. König in Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 37 StVO Rdnr. 48 und 61). Diese Gelblichtzeit reicht normalerweise aus, um unter normalen Fahrbedingungen bei Aufleuchten des Gelblichts rechtzeitig vor der Kreuzung anhalten oder aber die Kreuzung bei Gelblicht noch passieren zu können (vgl. Senatsbeschlüsse vom 14.08.2007 – 3 Ss OWi 4/07 – und vom 31.07.2003 – 3 Ss OWi 136/03 -; OLG Hamm, 4. Senat für Bußgeldsachen, Beschluss vom 4. September 1999 – 4 Ss OWi 909/99 m w. N.; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2000, 380; Löhle/Beck, DAR 2000, 1 (6)). Den festgestellten Rotlichtverstoß hat das Amtsgericht maßgebend auf die Aussage der Zeugin T gestützt und in den Urteilsgründen nachvollziehbar begründet. Auch die Beweiswürdigung im Übrigen lässt insoweit keine Rechtsfehler erkennen.
3.
Die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Amtsrichters tragen aber nicht die Verurteilung des Betroffenen wegen eines „qualifizierten Rotlichtverstoßes.“
Der Amtsrichter stützt seine Überzeugung von einer Rotlichtzeit von mehr als einer Sekunde auf die Aussage der Polizeibeamtin und Zeugin T. Diese Zeugin hat jedoch eine exakte Messung der Rotlichtzeit nicht vorgenommen. Die Zeugin hat nach den getroffenen Feststellungen auch keine gezielte Rotlichtüberwachung vorgenommen, sondern die Missachtung des Rotlichts durch den Betroffenen zufällig beobachtet, da sie sich mit ihrem Funkstreifenwagen hinter dem Fahrzeug des Betroffenen befand und sich ebenso wie dieser der hier in Rede stehenden Lichtzeichenanlage näherte.
Die Überzeugungsbildung des Amtsgerichts hinsichtlich der Annahme eines sogenannten qualifizierten Rotlichtverstoßes beruht mithin allein auf der Schätzung der Rotlichtzeit durch die Polizeibeamtin T. Einer solchen Schätzung kann nicht von vornherein ein Beweiswert abgesprochen werden. Es muss aber dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Zeitschätzungen wegen der Ungenauigkeit des menschlichen Zeitgefühls in der Regel mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet sind (vgl. Senatsbeschluss vom 16.01.1997 – 3Ss OWi 1540/96). Infolge dessen bedarf es in einem solchen Fall Ausführungen dazu, auf welcher Grundlage die Schätzung des Zeugen beruht, um dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung zu ermöglichen, ob die von dem Tatrichter angenommene Rotlichtzeit auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht. In den Urteilsgründen wird insoweit aber lediglich mitgeteilt, dass die Lichtzeichenanlage schon einige Sekunden Rotlicht zeigte, als sich der Betroffene dieser Anlage näherte. Wie weit der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt noch von der Lichtzeichenanlage bzw. einer etwaigen vorhandenen Haltelinie vor der Lichtzeichenanlage entfernt war, wird in den Urteilsgründen aber nicht mitgeteilt. Auch sonstige Umstände, durch die die Richtigkeit der Schätzung der Polizeibeamtin hätte erhärtet werden können, hat das Amtsgericht nicht festgestellt.
Zu beanstanden ist außerdem, dass der Amtsrichter bei der Feststellung der Dauer der Rotlichtzeit darauf abgestellt hat, wann der Betroffene die Lichtzeichenanlage passiert hat. Denn nach inzwischen einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung ist für die Berechnung der Rotlichtzeit von mehr als einer Sekunde der Zeitpunkt maßgeblich, in dem das betreffende Fahrzeug die Haltelinie passiert (vgl. Senatsbeschluss vom 16.01.1997 – 3 Ss OWi 1540/96 -; König in Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 37 StVO Rdnr. 61 b m.w.N.).
Eine Rotlichtzeit von mehr als einer Sekunde ist daher hier nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt worden, so dass das Urteil im Rechtsfolgenausspruch nebst den diesem zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben war. Da hier nicht auszuschließen ist, dass hinsichtlich der Dauer der Rotlichtzeit noch weitere Feststellungen getroffen werden können, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Herford zurückzuverweisen.
Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass sich aus dem Vorbringen des Betroffenen in der Rechtsbeschwerdebegründung ein sogenanntes Augenblicksversagen nicht herleiten lässt. Zur näheren Begründung wird insoweit auf die diesen Punkt betreffenden und zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 13.06.2007 (Seite 2, 5. Absatz sowie Seite 3, 1. Absatz) zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Von einem durchschnittlich sorgfältigen Kraftfahrer kann und muss nämlich verlangt werden, dass er an einer Kreuzung ein Mindestmaß an Konzentration aufbringt, das es ihm ermöglicht, die Verkehrssignale wahrzunehmen und zu beachten (vgl. Senatsbeschluss vom 13.0.3.2003 – 3 Ss Owi 38/03).