Zum Inhalt der Entscheidung: Wenn das Amtsgericht der Einlassung des Betroffenen glaubt, er habe nur ein alkoholfreies Weizenbier bestellt und getrunken, aber ein alkoholhaltiges bekommen und die Alkoholisierung nicht bemerkt, muss das Urteil auch Ausführungen darüber enthalten, ob und inwieweit diese Einlassung zu den übrigen Tatumständen (verstrichene Zeit seit Trinkende, Alkoholresorption) paßt.
Kammergericht Berlin
Beschluss vom 03.03.2016
3 Ws (B) 106/16 – 122 Ss 30/16
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 3. Dezember 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Aus den Gründen:
Der Polizeipräsident in Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 20. April 2015 gegen den aufgrund zweier Geschwindigkeitsüberschreitungen vorbelasteten Betroffenen wegen tateinheitlich begangener Ordnungswidrigkeiten nach § 24a Abs. 1 StVG und § 37 Abs. 2 (Nr. 1 Satz 7) StVO iVm § 24 StVG eine Geldbuße von 550 Euro und ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt. Der Betroffene soll, so der Vorwurf des Bußgeldbescheids, mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,35 mg/l rotes Ampellicht missachtet haben. Auf seinen Einspruch hat das Amtsgericht den Betroffenen zu einer Geldbuße von 110 Euro verurteilt und von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen. Es hat ihn lediglich eines „einfachen“ Rotlichtverstoßes für überführt angesehen, nicht aber der Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG. An einer diesbezüglichen Verurteilung hat sich die Bußgeldrichterin gehindert gesehen, weil dem Betroffenen kein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen sei. Sie hat dem Betroffenen geglaubt, er habe in einer Gaststätte ein alkoholfreies Weizenbier bestellt, aber offenbar ein alkoholhaltiges erhalten, und auch vor und während der Fahrt habe er nicht bemerkt, alkoholisiert gewesen zu sein.
Die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin beanstandet, dass der Betroffene weder wegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes noch wegen der Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG verurteilt worden ist. Auch rügt sie, dass das Amtsgericht den durch die polizeilichen Zeugen bekundeten und im Urteil festgehaltenen Umstand, dass der Betroffene durch ein am Fahrbahnrand stehendes Fahrzeug überrascht war und mit einem Schlenker ausweichen musste, nicht zum Anlass genommen hat, unter dem Gesichtspunkt des § 316 StGB in das Strafverfahren überzuleiten. Schließlich beanstandet die Amtsanwaltschaft, dass das Amtsgericht weder die Wirtsperson noch einen namentlich bekannten Gast als Zeugen vernommen hat. Die zu Ungunsten des Betroffenen eingelegte Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft hat mit der Rüge sachlichen Rechts Erfolg.
1. Unzulässig ist allerdings die Beanstandung, das Amtsgericht habe weder die Wirtsperson noch den anwesenden Gast des Lokals als Zeugen vernommen. Auch wenn die Amtsanwaltschaft ausdrücklich nur die Verletzung materiellen Rechts rügt, handelt es sich hierbei um eine Aufklärungsrüge. Diese ist nicht in einer § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise ausgeführt.
2. Dahinstehen kann die Frage, ob sich das Amtsgericht des Unterschieds zwischen der in mg/l gemessenen Atemalkohol- und der üblicherweise in Promille bezeichneten Blutalkoholkonzentration bewusst war. Diesbezügliche Zweifel ergeben sich bereits daraus, dass sowohl bei den Urteilsfeststellungen (UA S. 3) als auch bei der Beweiswürdigung (UA S. 5) von einer „Atemalkoholkonzentration von 0,35 Promille“ die Rede ist. Ein derartiger Irrtum wäre von Bedeutung, denn der Atemalkoholwert ist gegenüber dem Blutalkoholwert ein „tatbestandliches Aliud“ (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, StVG 43. Aufl., § 24a Rn 16). Und es liegt auf der Hand, dass die Einlassung des Betroffenen, er habe (nur) „ein Weizenbier“ getrunken auf der Grundlage einer mit 0,35 Promille gemessenen Blutalkoholkonzentration glaubhafter wäre als bei einer Atemalkoholkonzentration von 0,35 mg/l.
3. Es kann auch offen bleiben, ob die Beweiswürdigung widersprüchlich ist. Anlass zu dieser Einschätzung könnte geben, dass es in den Urteilsgründen einerseits heißt, die Einlassung des Betroffenen, er sei „davon ausgegangen, ein alkoholfreies Weizen getrunken zu haben“, sei „nicht mit der für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit zu widerlegen“ (UA S. 5). Andererseits heißt es im Urteil, dass das „Gericht davon überzeugt“ sei, „dass der Betroffene davon ausging, ein alkoholfreies Bier getrunken zu haben“ (UA S. 6).
4. Jedenfalls leidet das Urteil an einem durchgreifenden Darstellungsmangel. Es gibt zwar die den Fahrlässigkeitsvorwurf in Frage stellende Einlassung des Betroffenen wieder und erörtert sie, unterlässt es aber, auch die gegen den Betroffenen sprechenden Umstände in gleicher Weise darzustellen und zu erörtern (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 338, NStZ 2012, 227; Meyer-Goßner/Schmidt, StPO 58. Aufl., § 267 Rn. 33). Auch enthält das Urteil, obwohl sich der Betroffene umfassend eingelassen hat, keine Angaben zum Zeitpunkt des Trinkendes. Daneben verhält sich das Urteil auch nicht zu weiteren Parametern, die dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung ermöglichen könnten.
Das Urteil lässt eine kritische Auseinandersetzung mit der Behauptung des Betroffenen vermissen, er habe nur „ein Weizenbier“ getrunken. Einer Erörterung hätte es bedurft, weil die beim Betroffenen um 2.22 Uhr und damit 42 Minuten nach einem von Polizeibeamten beobachteten Rotlichtverstoß gemessene Atemluft eine Alkoholkonzentration von 0,35 mg/l aufwies. Auch wenn sich in der Literatur Angaben über Konversionsfaktoren mit einer Schwankungsbreite in Extremen zwischen 1 : 0,7 und 1 : 6,0 finden (vgl. Haffner/Graw, NZV 2009, 209 mwN; Haffner/Dettling, Blutalkohol 52, 233) und mithin eine exakte Konvertierung von Atemalkohol in Blutalkohol im wissenschaftlich-arithmetischen Sinn ausgeschlossen ist, so ist die Wahrscheinlichkeit doch sehr hoch, dass eine um 2.22 Uhr entnommene Blutprobe einen deutlich höheren Blutalkoholwert (in Promille) ergeben hätte. Dies gilt umso mehr, als die Urteilsfeststellungen es in zeitlicher und örtlicher Hinsicht als denkbar oder sogar naheliegend erscheinen lassen, dass der Atemalkohol nicht in der Anflutungs-, sondern in der sog. postresorptiven Eliminationsphase gemessen wurde. In diesem Abschnitt steigen die Konversionsfaktoren gegenüber der Trinkphase deutlich an, nämlich auf durchschnittlich etwas über 1 : 2 (vgl. Haffner/Graw, aaO; Haffner/Dettling, aaO: zwischen 1 : 1,99 und 1 : 2,33). Auf dieser Grundlage geht auch der Gesetzgeber von einer „normativen Entsprechung“ der Messverfahren im Verhältnis von 1 : 2 aus. Dabei will er den Betroffenen, dessen Atemalkohol gemessen wird, eher etwas günstiger stellen als jenen, dessen Blut untersucht wird, so dass die (hier nicht gemessene) Blutalkoholkonzentration des Betroffenen, zumal die Trinkphase schon länger abgeschlossen war und ggf. die Phase überwiegender Alkoholelimination begonnen hatte, mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar noch über dem verdoppelten Atemalkoholwert gelegen hätte.
Für die hier alleine in den Blick zu nehmende Bestimmung der erforderlichen Darstellungs- und Erörterungstiefe im Urteil ergibt sich daraus, dass eine Orientierung an der – zudem auf empirisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgehenden – normativen Wertung des Gesetzgebers zulässig und geboten ist. Danach musste das Amtsgericht die Behauptung des Betroffenen, er habe nur „ein Weizenbier“ getrunken, mit der Möglichkeit abgleichen, dass um 2.22 Uhr eine Blutalkoholkonzentration von ca. 0,7 Promille auf ihn wirkte. Eine Erörterung dieses Umstands lag umso näher, als allein zwischen der Gestellung des Betroffenen und der Messung 42 Minuten lagen. Die vom Betroffenen zuvor besuchte Gastwirtschaft wiederum lag mehr als 15 im innerstädtischen Verkehr zurückzulegende Kilometer vom Gestellungsort entfernt, so dass von einem noch deutlich früheren Trinkende auszugehen und gegebenenfalls in Rechnung zu stellen war, dass die mit dem Genuss von 0,5 l Weizenbier aufgenommene Alkoholmenge (ca. 20 g) bereits ganz oder zumindest teilweise abgebaut gewesen wäre.
Zwar bewertet es der nicht sachverständig beratene Senat nicht als Verstoß gegen die Denkgesetze, dass das Amtsgericht dem Betroffenen geglaubt hat, er habe nur „ein Weizenbier“ getrunken, und schon gar nicht ersetzt der Senat die Würdigung der Tatrichterin durch seine eigene. Die im Urteil geschilderten Umstände lassen die Einlassung jedoch als so überprüfungs- und klärungsbedürftig erscheinen, dass es einer vertieften Darstellung und Auseinandersetzung mit den Begleitumständen bedurft hätte. Hinzunehmen wäre die Bewertung des Amtsgerichts gegebenenfalls gewesen, wenn das Urteil ein ausgesprochen leichtes Körpergewicht des Betroffenen mitgeteilt hätte, so dass bereits geringe Mengen Alkohol zu der festgestellten, den Gefahrengrenzwert des § 24a StVG erheblich überschreitenden Alkoholisierung geführt haben könnten. Nach einer überschlägigen Berechnung des Senats und (sogar) unter Außerachtlassung möglichen Abbaus müsste der Betroffene allerdings zur Tatzeit weniger als 40 kg gewogen haben. Unter zusätzlicher Berücksichtigung begonnener Alkoholelimination dürfte die vom Betroffenen angegebene Trinkmenge indes kaum plausibel sein.
5. Daneben ist auch die Beweiswürdigung nicht frei von Rechtsfehlern. Eine einen Rechtsfehler im Sinn des § 79 Abs. 3 OWiG iVm § 337 Abs. 1 StPO darstellende Lücke liegt vor, wenn die Beweiswürdigung wesentliche Feststellungen nicht erörtert (vgl. etwa BGH NStZ-RR 2016, 54) oder nur eine von mehreren gleich naheliegenden Möglichkeiten prüft (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 147). Das ist hier der Fall. Der Senat versteht das Urteil so, dass es das Amtsgericht als Indiz für die Glaubhaftigkeit der Behauptung des Betroffenen, er habe eigentlich alkoholfreies Bier trinken wollen, gewertet hat, dass er an Krebs leidet und „seit ca. einem Jahr generell keinen Alkohol“ trinke. Zugleich hat das Amtsgericht dem Betroffenen geglaubt, dass er „vor Fahrtantritt sowie während der Fahrt nicht merkte, dass er unter dem Einfluss alkoholischer Getränke stand“. Es mag entfernt denkbar sein, dass ein seit einem Jahr alkoholabstinent Lebender den zu einer Atemalkoholkonzentration von 0,35 mg/l führenden Alkohol nicht spürt. Jedenfalls müsste das Urteil aber erkennen lassen, dass sich die Richterin der Besonderheit dieses Umstands bewusst war, und es wäre darzulegen gewesen, dass und warum dem Betroffenen gleichwohl geglaubt werden konnte.
Das Urteil war daher aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.
6. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Da § 24a StVG als abstrakte Gefährdungsordnungswidrigkeit wichtige Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer schützt (vgl. BVerfG NJW 2005, 349) und die Gefahren im Straßenverkehr, wo Nachlässigkeiten und Irrtümer zu folgenschweren Unfällen führen, besonders hoch sind, sind auch die Sorgfaltsanforderungen besonders streng (LK-König, StGB 11. Aufl., § 315c Rn. 66). Folgerichtig muss sich ein Kraftfahrer vor Fahrtantritt nicht nur der Verkehrssicherheit seines Fahrzeugs (§ 23 StVO) und seiner Ladung (§ 22 StVO), sondern auch seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (§ 2 Abs. 1 FeV; § 31 Abs. 1 StVZO; auch §§ 315c, 316 StGB) sicher sein (vgl. Senat Blutalkohol 52, 32).
Sollte das in neuer Hauptverhandlung gegebenenfalls sachverständig beratene Amtsgericht dem Betroffenen erneut glauben, versehentlich Alkohol konsumiert zu haben, wird neben dem bisher ausschließlich in den Blick genommenen Vorwurf der bewussten Fahrlässigkeit zu prüfen sein, ob dem Betroffenen in Bezug auf seine Alkoholisierung unbewusste Fahrlässigkeit zur Last fällt. Das wäre der Fall, wenn er bei der nach den vorgenannten Maßstäben besonders strengen Selbstprüfung zu dem Ergebnis hätte kommen können und müssen, dass er unter der Wirkung von Alkohol stand. Nach einjähriger Alkoholabstinenz dürfte dies bei der festgestellten Atemalkoholkonzentration von 0,35 mg/l naheliegen.
b) Jedenfalls im Fall der Nichterweislichkeit der Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG gebietet die Sachaufklärungspflicht die Beiziehung eines Ampelschaltplans. Dieser wird mit großer Wahrscheinlichkeit ergeben, dass dem Betroffenen ein mit einem Fahrverbot bewehrter qualifizierter Rotlichtverstoß zur Last fällt. Denn ausweislich der Bekundungen des Zeugen R., dem das Amtsgericht im ersten Rechtsgang geglaubt hat, leuchtete das für die Fußgänger geltende Ampellicht bereits grün, als der Betroffene über die Haltlinie fuhr (UA S. 4).