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OLG Saarbrücken – Beschluss vom 21.02.11

Zum Inhalt der Entscheidung: 1. Wenn das erkennende Gericht in den Urteilsfeststellungen oder in der Beweiswürdigung für seine Überzeugungsbildung auf den Eichschein sowie das Messprotokoll und das Kontrollblatt zum Messprotokoll zurückgreift, müssen diese zuvor ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein. Ob dies der Fall ist, ergibt sich i.d.R. aus dem Verhandlungsprotokoll.

2. Grundlage einer jeden Protokollberichtigung ist nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofes die sichere Erinnerung der Urkundspersonen. Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht mehr berichtigt werden (BGHSt 51, 298, 314, 316). Vor der beabsichtigten Protokollberichtigung müssen die Urkundspersonen zunächst den Beschwerdeführer hören. Widerspricht dieser der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundsbeamten trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit dass Protokoll in der nicht berichtigten Fassung (BGHSt 51, 298, 315 f.; BGH NStZ 2008, 580, 581).

 

Oberlandesgericht Saarbrücken

Beschluss vom 21.02.2011

Ss (B) 117/10 (165/10)

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Saarlouis vom 30. Juni 2010 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Saarlouis zurückverwiesen.

 

Aus den Gründen:

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreidung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 47 km/h eine Geldbuße von 160,-​- Euro festgesetzt und ein Fahrverbot von 1 Monat verhängt.

Mit der form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde rügt der Verteidiger des Betroffenen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Dem Rechtsmittel konnte der Erfolg schon aus den von der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 9. Dezember 2010 genannten Gründen nicht versagt bleiben. Danach gilt Folgendes:

Die Rechtsbeschwerde führt schon auf die erhobene Verfahrensrüge hin zu einem (vorläufigen) Erfolg.

Der Betroffene rügt zu Recht und in der erforderlichen Form des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, das erkennende Gericht habe seine Überzeugung nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewonnen und somit gegen § 261 StPO verstoßen.

Die Rüge ist in zulässiger Weise ausgeführt, denn aus dem gesamten Rügevorbringen ergibt sich zweifelsfrei die Behauptung, dass der OWi-​Beleg, die Messskizze, der Eichschein, das Messprotokoll und das Kontrollblatt nicht auf andere Weise als durch Augenschein in die Verhandlung eingeführt worden sind.

1. Das erkennende Gericht hat in den Urteilsfeststellungen und in der Beweiswürdigung für seine Überzeugungsbildung auf den Eichschein sowie das Messprotokoll und das Kontrollblatt zum Messprotokoll zurückgegriffen.

Auch in Bußgeldverfahren wird die Beweisaufnahme grundsätzlich nur in der Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises durchgeführt. Das Strengbeweisverfahren gebietet, das Strengbeweismittel ausschließlich in der jeweils vom Gesetz vorgeschriebenen Form in das Verfahren eingeführt und verwertet werden dürfen.

Diese Formvorschriften finden sich in den in Büßgeldverfahren entsprechend anzuwendenden §§ 249 bis 254 und 256 StPO, welche teilweise ersetzt und teilweise ergänzt werden durch die Vorschriften der §§ 74 Abs. 1, 77a, 78 Abs. 1 OWiG (KK-​Senge, OWiG, 2. Auflage, § 71 Rdnr. 75).

Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls (Blatt 53 – 59 d.A.) vom 30.06.2010, dem gemäß § 274 StPO im Hinblick auf die wesentlichen Förmlichkeiten der Verlesung einer Urkunde und der Augenscheinseinnahmen auch eine negative Beweiskraft zukommt (BGH, wistra 1992, 30) ist belegt, dass der OWi-​Beleg, die Messskizze, der Eichschein, das Messprotokoll und das Kontrollblatt in Augenschein genommen worden sind; eine Verlesung des Eichscheins sowie der maßgeblichen Angaben zur Geschwindigkeitsüberschreitung auf dem Kontrollblatt Nr. 1 zum Messprotokoll jedoch nicht erfolgte. Es ist aus dem Protokoll auch nicht erkennbar, dass das erkennende Gericht durch die Bekanntgabe des wesentlichen Inhalts nach § 78 Abs. 1 OWiG die Beweismittel ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt hätte. Weiter ergibt sich aus dem Protokoll der Hauptverhandlung auch nicht, dass das Amtsgericht die Beweismittel im Wege des Vorhalts in die Hauptverhandlung eingeführt hätte.

Lediglich hinsichtlich der Frage, ob die Geschwindigkeitsmessung des vom Betroffenen geführten Fahrzeuges im ankommenden oder abfließenden Verkehr in Fahrtrichtung N. erfolgte, lassen die Urteilsgründe erkennen, dass die insoweit im Messprotokoll enthaltenen Angaben im Wege des Vorhalts in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein dürften.

Die im übrigen ausschließlich erfolgte Augenscheinseinnahme der Urkunden war keine zureichende Beweiserhebung, weil dies nur dann gegeben ist, wenn es nicht auf den Inhalt der Urkunde, sondern nur auf deren Vorhandensein oder den Zustand ankommt (BGH, NStZ-​RR 1999, 37). Demgegenüber kann der durch Schrift dokumentierte Inhalt einer Urkunde nur durch Verlesung nach §§ 249 ff. StPO bzw. nach § 78 Abs. 1 OWiG in die Hauptverhandlung eingeführt werden (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17.10.2007 -1 Ss 252/07-, zitiert nach juris).

2. Der danach zulässigen Verfahrensrüge ist nicht dadurch die Grundlage entzogen, dass das Gericht eine Protokollberichtigung vorgenommen hat, denn diese ist ihrerseits nicht verfahrensordnungsgemäß zustande gekommen.

a) Nachdem der Verteidiger, mit Schriftsatz vom 13.09.2010 unter anderem die vorgenannte Verfahrensrüge erhoben hatte, wurde seitens des erkennenden Gerichts am 16.09.2010 das Protokoll wie folgt berichtigt:

1. Folgende Urkunden wurden durch Verlesen in das Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht

– OWi-​Beleg Bl.2 d.A.

– Skizze Bl.5 d.A.

– Eichschein Bl. 8 ff. d.A.

– Messprotokoll Bl. 4 d.A.

– Kontrollblatt Bl. 6 d.A.

2. Der Zeuge PK Q wurde entlassen, nachdem der OWi-​Beieg Bl. 2 d.A., die Skizze Bl. 5 d.A., der Eichschein B. 8 ff d.A., das Messprotokoll Bl. 6 d.A. durch Verlesen in die Hauptverhandlung eingeführt und mit dem Zeugen durchgesprochen worden sind.

Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden. Als Gegenbeweis lässt das Gesetz nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2 StPO). Darüber hinaus kann zwar nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofes durch eine nachträgliche Berichtigung des Protokolls einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des Revisionsführers die Tatsachengrundlage entzogen werden (BGHSt 51, 298 ff.; BVerfG, Beschluss vom 15.01.2009 -2 BvR 2044/07, zitiert nach juris). Eine solche nachträgliche Protokollberichtigung hat vorliegend jedoch nicht in der gebotenen Weise stattgefunden und kann auch nicht nachgeholt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 14.10.2010 -2 StR 158/10-​; OLG Hamm, Beschluss vom 10.03.2009 -5 Ss 506/08-, jeweils zitiert nach juris sowie i.e. Meyer-​Goßner, StPO, 53. Aufl. § 271 Rn. 23 ff.).

Grundlage einer jeden Protokollberichtigung ist nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofes die sichere Erinnerung der Urkundspersonen. Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht mehr berichtigt werden (BGHSt 51, 298, 314, 316). Vor der beabsichtigten Protokollberichtigung müssen die Urkundspersonen zunächst den Beschwerdeführer hören. Widerspricht dieser der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundsbeamten trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit dass Protokoll in der nicht berichtigten Fassung (BGHSt 51, 298, 315 f.; BGH NStZ 2008, 580, 581).

Nichts anderes gilt, wenn das vom Großen Senat vorgegebene Verfahren der Protokollberichtigung nicht eingehalten oder nicht durchgeführt wird. Auch dann gilt das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung (BGH, Beschluss vom 14.07.2010 -2 StR 158/10-; OLG Hamm Beschluss vom 12.10.2010 -3 Rvs 49/10, III – 3 Rvs 49/10-jeweils zitiert nach juris).

b) Eine den Anforderungen des § 271 StPO genügende ordnungsgemäße Protokollberichtigung ist vorliegend nicht durchgeführt worden. Dienstliche Äußerungen sind nicht eingeholt worden. Zudem ist dem Verteidiger und dem Angeklagten kein rechtliches Gehör zu der beabsichtigten Protokollberichtigung gewährt worden.

Eine Rücksendung der Akten zur Durchführung eines ordnungsgemäßen Berichtigungsverfahrens ist bei der gegebenen Sachlage nicht geboten, weil dies der Wiederholung eines nicht ordnungsgemäßen Verfahrens unter Verletzung des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren gleichkäme (vgl. Meyer-​Goßner, a.a.O., § 271 Rn. 26a; OLG Hamm StV 2009, 668; BGH, Beschluss vom 14.07,2010 -2 StR 158/10, zitiert nach juris).

c) Aber auch eine – neben einer ordnungsgemäßen Protokollberichtigung grundsätzlich statthafte – freibeweisliche Aufklärung des tatgerichtlichen Verfahrensablaufs allein unter Berücksichtigung abgegebener dienstlicher Erklärungen und damit unter geringeren Anforderungen als in dem die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren nach erhobener Verfahrensrüge zum Nachteil des Angeklagten kommt vorliegend nicht in Betracht (BGH, Beschluss vom 14.07.2010 -2 StR 158/10 m.w.N. zitiert nach juris). Denn das Bundesverfassungsgericht hat die Zulässigkeit der nachträglichen Protokollberichtigung mit der Folge, dass einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge nachträglich die Grundlage entzogen wird, eng damit verknüpft hat, dass bei der Berichtigung des Protokolls das vom Bundesgerichtshof vorgegebene förmliche Verfahren eingehalten wird (BVerfG, Beschluss vom 15.01.2009 -2 BvR 2044/07, Rn 76 ff, zitiert nach juris).

Ob hiervon in Fällen krasser Widersprüchlichkeit Ausnahmen zu machen sind (vgl. BGH NJW 2010, 2068, 2069; BGH Beschluss vom 14.07.2010 -2 StR 158/10, zitiert nach juris), kann offen bleiben, da ein solcher Fall hier ersichtlich nicht gegeben ist. Der Betroffene, der durch Beschluss des erkennenden Gerichts vom 23.06.2010 von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden und ebenso wie sein Verteidiger im Hauptverhandlungstermin vom 30.06.2010 nicht anwesend war, kann seinen Vortrag im Rahmen der erhobenen Verfahrens rüge nur auf das Verhandlungsprotokoll stützen.

Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Vorgaben hat der Senat bei seiner Überprüfung des angefochtenen Urteils daher vom Hauptverhandlungsprotokoll in der nicht berichtigten Fassung auszugehen.

3. Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO ist auch begründet.

Nach dem maßgeblichen Inhalt des unberichtigten Protokolls ist davon auszugehen, dass weder der Eichschein noch sämtliche auf dem Messprotokoll und dem Kontrollblatt Nr. 1 zum Messprotokoll vorhandenen Angaben zur Geschwindigkeitsmessung ordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt worden sind.

Es ist daher anzunehmen, dass die richterliche Überzeugungsbildung nicht lediglich auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG) beruht, so dass das Urteil aufzuheben ist.

Dem steht auch nicht entgegen, dass nach § 79 Abs. 6 OWiG die eigene Sachentscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts grundsätzlich Vorrang vor einer Zurückverweisung hat. Eine solche scheidet hier nämlich aus, weil sie nur auf der Grundlage von vom Amtsgericht rechtsfehlerfrei festgestellten Tatsachen möglich (OLG Schleswig, Beschlüsse vom 13.02.2004 -1 Ss OWi 13/04- und 24.11.2005 -2 Ss OWi 196/05; OLG Hamm Beschluss vom 20.09.2007 -3 Ss OWi 444/07, zitiert nach juris).

4. Da bereits eine Verfahrensrüge zur Aufhebung des Urteils führt, bedarf es eines Eingehens auf die ebenfalls vom Betroffenen erhobene Sachrüge nicht mehr.

Das angefochtene Urteil war daher mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

(…)