1. Definition: Was bedeutet „Aussage gegen Aussage“?
Im Verkehrsstrafrecht liegt eine „Aussage gegen Aussage“-Situation vor, wenn die Anklage oder der Verdacht gegen einen Beschuldigten ausschließlich auf der Aussage eines Zeugen beruht. In der Regel handelt es sich dabei um das mutmaßliche Opfer der Tat. Eine solche Konstellation besteht auch, wenn mehrere Zeugenaussagen vorliegen, die jedoch aus demselben sozialen Umfeld stammen, etwa von Freunden oder Verwandten des Anzeigeerstatters.
In diesen Fällen trägt das mutmaßliche Opfer den Tatvorwurf vor, während der Beschuldigte entweder eine alternative Darstellung des Sachverhalts präsentiert oder die Vorwürfe bestreitet – auch durch Schweigen. Dabei ist juristisch festgelegt, dass das Schweigen des Beschuldigten nicht zu seinem Nachteil gewertet werden darf.
2. Die besondere Beweisproblematik
Für eine Verurteilung sind im Strafverfahren grundsätzlich belastbare Beweise erforderlich. Problematisch ist die Beweislage bei einer „Aussage gegen Aussage“-Situation insbesondere dann, wenn keine weiteren objektiven Beweismittel wie Videoaufzeichnungen, Unfallspuren oder unabhängige Zeugen vorliegen. Gerade im Bereich der Verkehrsdelikte kommt es oft vor, dass lediglich die Aussage eines einzelnen Zeugen oder Geschädigten gegen die des Beschuldigten steht. Dies betrifft beispielsweise Vorwürfe der Nötigung durch dichtes Auffahren oder gefährliche Überholmanöver.
3. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten)
Das Prinzip „in dubio pro reo“ besagt, dass ein Angeklagter freizusprechen ist, wenn nach der Beweisaufnahme erhebliche Zweifel an seiner Schuld bestehen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass eine „Aussage gegen Aussage“-Situation automatisch zu einem Freispruch führt. Vielmehr muss das Gericht eine umfassende Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsprüfung der Aussagen vornehmen.
Wenn das Gericht nach der Beweiswürdigung keine klare Überzeugung gewinnen kann, muss zugunsten des Angeklagten entschieden werden. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist jedoch keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel. Das bedeutet, dass das Gericht bei bestehender Überzeugung durchaus zu einer Verurteilung kommen kann, selbst wenn keine weiteren Beweise vorliegen.
4. Kriterien zur Beweiswürdigung durch das Gericht
Gemäß § 261 StPO (Strafprozessordnung) entscheidet das Gericht nach freier Beweiswürdigung, ob eine Aussage glaubwürdig ist. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat hierzu wesentliche Kriterien aufgestellt, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage herangezogen werden:
- Konstanz der Aussage – Bleibt die Schilderung des Zeugen über verschiedene Vernehmungen hinweg in den wesentlichen Punkten unverändert?
- Innere Stimmigkeit und Logik – Ist die Aussage folgerichtig und widerspruchsfrei?
- Detailreichtum – Werden auch Nebensächlichkeiten oder ungewöhnliche Details genannt?
- Schilderung von Kommunikation und Interaktion – Gibt der Zeuge nachvollziehbar wieder, wie das Geschehen ablief?
- Beschreibung eigener Emotionen und Reaktionen – Berichtet der Zeuge über seine Gefühle während der Tat?
- Existenz eines möglichen Falschbelastungsmotivs – Gibt es Gründe, aus denen der Zeuge den Beschuldigten absichtlich falsch belasten könnte (z. B. Rache, Eifersucht)?
- Einfluss durch Dritte – Wurde die Aussage möglicherweise durch andere Personen beeinflusst?
- Aussagekompetenz des Zeugen – Ist der Zeuge in der Lage, eine objektive und korrekte Aussage zu machen (z. B. Kinder, psychisch beeinträchtigte Personen)?
Sollte das Gericht eine belastende Zeugenaussage für glaubwürdig halten, kann es zu einer Verurteilung kommen – selbst wenn keine weiteren Beweise existieren.
5. Anforderungen an die Beweiswürdigung laut BGH
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt hohe Anforderungen an die Beweiswürdigung in „Aussage gegen Aussage“-Konstellationen. In einem Urteil vom 07.03.2012 (2 StR 565/11) wurden folgende Maßstäbe formuliert:
- Sorgfältige Inhaltsanalyse der Zeugenaussagen
- Genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage
- Bewertung eines möglichen Belastungsmotivs des Zeugen
- Prüfung auf Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Schilderung
Werden diese Kriterien nicht erfüllt, kann dies eine Grundlage für ein erfolgreiches Rechtsmittel sein.
6. Praktische Relevanz im Verkehrsstrafrecht
In verkehrsrechtlichen Strafverfahren treten „Aussage gegen Aussage“-Situationen häufig auf. Ein klassisches Beispiel ist eine Strafanzeige wegen Nötigung im Straßenverkehr. Ein Fahrer gibt an, von einem anderen durch abruptes Bremsen oder dichtes Auffahren gefährdet worden zu sein. In solchen Fällen beruhen die Vorwürfe oft allein auf der Aussage des Anzeigeerstatters.
Wer sich als Beschuldigter in einem solchen Verfahren befindet, sollte nicht davon ausgehen, dass die Anklage automatisch fallengelassen wird, nur weil keine weiteren Beweise vorliegen. Die Aussage des Anzeigeerstatters gilt als Zeugenaussage und damit als Beweismittel. Die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht hat dieses Beweismittel zu würdigen. Ist die Zeugenaussage hinreichend glaubhaft, kann auf ihrer Basis durchaus eine Verurteilung erfolgen. Die Annahme, allein aufgrund der Aussage des Anzeigeerstatters könne man nicht wegen einer Straftat verurteilt werden, ist also falsch.
„Aussage gegen Aussage“ kann übrigens auch dann vorliegen, wenn die Sachverhaltsdarstellung des Beschuldigten im Widerspruch zu mehreren Zeugenaussagen steht, die demselben Lager zugeordnet werden können (OLG Frankfurt, 06.11.2009 – 1 Ss 390/08).
Glaubt das Gericht einen Teil der Aussage des Belastungszeugen, obwohl es ihm in anderen Teilen nicht folgt, bedarf dies regelmäßig einer besonderen Begründung (BGH, Beschluss vom 28.07.15, 4 StR 132/15).
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