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Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen: Wann greift er und was bedeutet er?

Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen

Was ist der Anscheinsbeweis?

Der Rechtsbegriff des Anscheinsbeweises (auch prima-facie-Beweis genannt) bezeichnet einen Aspekt der Beweiswürdigung im Zivilprozess. In einem Gerichtsverfahren müssen Beweise grundsätzlich nur dann erhoben werden, wenn ein Sachverhalt zwischen den Parteien streitig ist. Gerade in Verkehrsunfallsachen kommt es häufig vor, dass nicht der gesamte Unfallhergang umstritten ist, sondern nur bestimmte, von einer Partei vorgetragene Tatsachen.

Kann ein entscheidungsrelevanter Aspekt nicht bewiesen werden (non liquet), geht dies im Regelfall zu Lasten der beweisbelasteten Partei. Dies würde jedoch bedeuten, dass eine Partei den Prozess allein durch unbewiesene Behauptungen gewinnen könnte, wenn keine Zeugen oder Beweismittel vorhanden sind. Um dies zu vermeiden, kann der Anscheinsbeweis helfen.

Wie funktioniert der Anscheinsbeweis?

Ein Anscheinsbeweis liegt vor, wenn aus einem unstreitigen Sachverhalt auf einen typischen Geschehensablauf geschlossen werden kann, obwohl der genaue Hergang zwischen den Parteien umstritten ist. Er dient somit als Beweiserleichterung für die beweisbelastete Partei. Gelingt der Anscheinsbeweis, gilt der typische Geschehensablauf als bewiesen. Der Gegner hat dann allerdings die Möglichkeit, einen atypischen Verlauf nachzuweisen.

Anscheinsbeweis im Verkehrsrecht: Typische Beispiele

Der Anscheinsbeweis betrifft bei Verkehrsunfällen vor allem Fragen der Kausalität und Verursachung. Es gibt einige klassische Fallkonstellationen, in denen Gerichte regelmäßig einen Anscheinsbeweis annehmen:

  1. Auffahrunfall („Wer auffährt, ist schuld.“)
    Wenn ein Fahrzeug auf ein anderes auffährt, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass der Auffahrende entweder unaufmerksam war oder den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat.

    • Ausnahme: Der Auffahrende kann nachweisen, dass der Vorausfahrende grundlos oder besonders abrupt gebremst hat.
  2. Unfälle beim Spurwechsel
    Wer beim Spurwechsel mit einem anderen Fahrzeug kollidiert, hat in der Regel seine Sorgfaltspflichten verletzt. Der Anscheinsbeweis spricht daher gegen den Spurwechsler.

    • Ausnahme: Es kann bewiesen werden, dass der andere Fahrer absichtlich beschleunigt hat, um die Lücke zu schließen.
  3. Unfälle im Kreuzungsbereich
    Wer aus einer untergeordneten Straße einfährt und einen Unfall verursacht, haftet regelmäßig voll, da er gegen das Vorfahrtgebot verstoßen hat.

    • Ausnahme: Der Vorfahrtsberechtigte hat seine Geschwindigkeit erheblich überschritten.
  4. Schleuderunfälle und Abkommen von der Fahrbahn
    Gerät ein Fahrzeug ins Schleudern oder verlässt die Fahrbahn, wird in der Regel davon ausgegangen, dass der Fahrer die Kontrolle durch unangepasste Geschwindigkeit oder Unaufmerksamkeit verloren hat.

    • Ausnahme: Ein technischer Defekt oder ein plötzlich auftretendes Hindernis kann nachgewiesen werden.

Wann greift der Anscheinsbeweis nicht?

Der Anscheinsbeweis ist nicht uneingeschränkt anwendbar. Er greift nicht, wenn der Unfallgegner einen atypischen Geschehensablauf glaubhaft darlegen und beweisen kann. Dazu gehören beispielsweise:

  • Ein technischer Defekt, der zum Unfall führte (z. B. Bremsversagen)
  • Ein geplatzter Reifen ohne vorherige Anzeichen
  • Ein plötzlich auftretendes Hindernis (z. B. Wildwechsel)
  • Ein bewusster Eingriff eines Dritten (z. B. Drängeln oder Abdrängen von der Fahrbahn)

In solchen Fällen reicht es nicht aus, nur zu behaupten, dass eine dieser Ursachen vorlag. Es müssen Beweise wie Zeugenaussagen, Gutachten oder technische Untersuchungen vorgelegt werden.

Der Anscheinsbeweis ist eine wichtige Beweiserleichterung im Verkehrsrecht, die Unfallgeschädigten zugutekommt. Allerdings gibt es viele Möglichkeiten, diesen zu entkräften oder anzufechten.


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