OLG Hamburg - Beschluss v. 17.11.11

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Zum Inhalt der Entscheidung: 1. Bei Widersprüchen zwischen der Urteilformel in der Sitzungsniederschrift und derjenigen in der Urteilsurkunde ist die Formel im Protokoll maßgebend, da diese nach § 274 StPO als verkündet gilt.

2. Zwar schließt das Nichterkennen eines (Fremd-)Schadens infolge nachlässiger Nachschau die Annahme eines bedingten Vorsatzes nicht zwingend aus; jedoch müssen in diesem Fall besondere Umstände – wie zum Beispiel ein besonders heftiger Aufprall oder ein eklatanter Schaden am eigenen Fahrzeug – hinzutreten, die auf den bedingten Vorsatz trotz Nichterkennens des Schadens schließen ließen.

 

Oberlandesgericht Hamburg

Beschluss vom 17.11.2017

2 - 14/11 (REV), 2 - 14/11 (REV) - 1 Ss 36/11

Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 8, vom 25. November 2010 aufgehoben und der Angeklagte freigesprochen.

II. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

 

Aus den Gründen:

I.

Das Amtsgericht Hamburg-Altona hat mit Strafbefehl vom 16. Februar 2010 gegen den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort auf eine Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu jeweils 150,-- Euro, zahlbar in monatlichen Raten von 250,-- Euro, und ein Fahrverbot von zwei Monaten erkannt. Gegen den dem Angeklagten am 26. Februar 2019 zugestellten Strafbefehl hat dieser am 3. März 2010 Einspruch erhoben. Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 27. Mai 2010 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu jeweils 150,-- Euro, zahlbar in monatlichen Raten von 250,-- Euro, und einem Monat Fahrverbot verurteilt. Über die dagegen am 28. Mai 2010 von dem Angeklagten eingelegte Berufung hat das Landgericht Hamburg in der Hauptverhandlung vom 25. November 2010 entschieden. Laut am 26. November 2010 fertig gestelltem Hauptverhandlungsprotokoll hat das Landgericht „nach geheimer Beratung das Urteil durch Verlesung der Urteilsformel und mündliche Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urteilsgründe dahin verkündet: Im Namen des Volkes Die Kosten des Berufungsverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt der Angeklagte“. Das am 10. Januar 2011 zugestellte schriftliche Urteil weist entgegen dem protokollierten Tenor folgende Urteilsformel aus: „ Auf die Berufung des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Altona vom 27. Mai 2010 (325 – 69/10) im Rechtsfolgenausspruch dahin abgeändert, dass das verhängte Fahrverbot in Wegfall gerät. Die weitergehende Berufung wird verworfen. Die Kosten des Berufungsverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt der Angeklagte“. Gegen das landgerichtliche Urteil hat der Angeklagte am 30. November 2010 Revision eingelegt, die er mit am 9. Februar 2011 eingegangenem Verteidigerschriftsatz mit dem Antrag auf Urteilsaufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht sowie der ausgeführten Sachrüge begründet hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat darauf angetragen, das landgerichtliche Urteil aufzuheben und den Angeklagten freizusprechen.

II.

Die mit der Sachrüge zulässig erhobene Revision führt dazu, dass das landgerichtliche Urteil aufgehoben und der Angeklagte von dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort freigesprochen wird.

1. Auf die Sachrüge des Angeklagten ist das landgerichtliche Urteil schon wegen fehlenden Schuld- und Rechtsfolgenausspruches aufzuheben.

Bei Widersprüchen zwischen der Urteilformel in der Sitzungsniederschrift und derjenigen in der Urteilsurkunde ist die Formel im Protokoll maßgebend, da diese nach § 274 StPO als verkündet gilt (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 268 Rdn. 18 m.w.N.).

Erkennbare Fehler wie offensichtliche Lücken, Unklarheiten oder Widersprüche, auf Grund derer die absolute Beweiskraft des fertiggestellten Hauptverhandlungsprotokolls vorliegend entfiele, so dass dem Revisionsgericht eine Aufklärung des tatsächlichen Inhaltes der verkündeten Urteilsformel im Freibeweisverfahren und in freier Beweiswürdigung zugänglich wäre (Meyer-Goßner, a.a.O., § 274 Rdn. 18), enthält vorliegend das fertiggestellte Protokoll der landgerichtlichen Hauptverhandlung nicht. Der Senat hat deshalb auf Grund der absoluten Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO seiner Entscheidung die aus dem fertiggestellten landgerichtlichen Hauptverhandlungsprotokoll als verkündet ersichtliche Urteilsformel zu Grunde zu legen, die hier allein eine Kosten- und Auslagenentscheidung beinhaltet und der es an einem Schuld- sowie Rechtsfolgenausspruch mangelt.

Das Fehlen eines Schuld- und Rechtsfolgenausspruches würde für sich genommen indes lediglich eine Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie Zurückverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung nach § 349 Abs. 4 StPO zur Folge haben, da auf der Grundlage allein dieses Rechtsfehlers nicht auszuschließen wäre, dass eine neue Hauptverhandlung noch Aufschlüsse zu erbringen vermöchte, auf Grund derer ein Schuld- und Rechtsfolgenausspruch getroffen werden könnte (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 354 Rdn. 3 m.w.N.).

2. Die durch die Sachrüge veranlasste Urteilsüberprüfung erbringt gegenüber der vorstehend bezeichneten Folge einer Urteilsaufhebung und Zurückverweisung wegen fehlenden Schuld- und Rechtsfolgenausspruches weitergehend, dass der Angeklagte von dem verfahrensgegenständlichen Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort freizusprechen ist.

Der in den schriftlichen Urteilsgründen niedergelegte Schuldspruch kann keinen Bestand haben, weil die von dem Landgericht zur inneren Tatseite getroffenen Feststellungen eine Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 Abs. 1 StGB nicht tragen. In Folge der Fehlerhaftigkeit der Darlegungen zum Schuldspruch können weiter auch die auf diesen beruhenden, sich aus den schriftlichen Urteilsgründen ergebenden Ausführungen zur Rechtsfolgenseite keinen Bestand haben.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat dazu ausgeführt:

„Der subjektive Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB setzt vorsätzliches Handeln voraus, wobei bedingter Vorsatz genügt (vgl. BGHSt 7, 1122; OLG Hamm NJW 2003, 3286, 3287; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 142 Rdn. 38). Der Vorsatz muss sich auf sämtliche Merkmale des objektiven Tatbestandes beziehen. Der Täter muss mithin erkannt oder zumindest mit der Möglichkeit gerechnet haben, dass ein nicht ganz unerheblicher Schaden eingetreten ist (OLG Köln VRS Bd. 101, 275, 276).

Entsprechende Feststellungen hat das Landgericht jedoch nicht getroffen. Es geht vielmehr davon aus, dass der Angeklagte den entstandenen Schaden am Fahrzeug der Zeugin H. tatsächlich nicht erkannt hat, und führt aus, dass der Schaden bei einer angemessenen sorgfältigen Betrachtung sichtbar gewesen wäre (UA 7 M., 13 o.). Der Umstand, dass der Angeklagte die Entstehung eines nicht unerheblichen Schadens bei einer sorgfältigen Überprüfung hätte erkennen können oder müssen, belegt jedoch lediglich ein fahrlässiges Verhalten.

Zwar schließt das Nichterkennen eines (Fremd-)Schadens infolge nachlässiger Nachschau die Annahme eines bedingten Vorsatzes nicht zwingend aus (vgl. OLG Köln a.a.O.); jedoch müssen in diesem Fall besondere Umstände – wie zum Beispiel ein besonders heftiger Aufprall oder ein eklatanter Scha-den am eigenen Fahrzeug – hinzutreten, die auf den bedingten Vorsatz trotz Nichterkennens des Schadens schließen ließen. Solche Umstände, die einer eingehenden Darlegung und Würdigung im Urteil bedürften, sind nach den Feststellungen des Landgerichts nicht ersichtlich.

Eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB scheidet – unabhängig davon, ob die Feststellungen des Landgerichts eine Verurteilung insoweit getragen hätten – bei unvorsätzlichem Entfernen vom Unfallort aus (BVerfG NJW 2007, 1666).

Da im Hinblick auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil weitere erhebliche Feststellungen nach einer Zurückverweisung ausgeschlossen werden können und die Aufhebung des Urteils nur wegen fehlerhafter Rechtsanwendung auf den festgestellten Sachverhalt erfolgt, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst entscheiden und den Angeklagten freisprechen (§ 354 Abs. 1 StPO).“.

Dem schließt der Senat sich an.

3. Die Sache ist auch nicht zur – weiteren – Verfolgung der auch bei fahrlässiger Begehungsweise tatbestandsmäßigen Ordnungswidrigkeit des Verstoßes gegen die straßenverkehrsrechtliche Grundregel und das Gebot besonderer Vorsicht beim Rückwärtsfahren gemäß §§ 24 Abs. 1 StVG, 1 Abs. 2, 9 Abs. 5 StVO an das Landgericht zurückzuverweisen, da die Ordnungswidrigkeit bei Erlass des amtsgerichtlichen Strafbefehls am 16. Februar 2010 bereits verjährt war.

Die landgerichtlichen Urteilsfeststellungen erbringen, dass der Angeklagte – wie er in tatsächlicher Hinsicht auch einräumt – am 1. Oktober 2009 eine Ordnungswidrigkeit im Sinne des § 24 Abs. 1 StVG in Gestalt eines mindestens fahrlässigen Verstoßes gegen die Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO und das Gebot besonderer Vorsicht beim Rückwärtsfahren nach § 9 Abs. 5 StVO begangen hat, indem er beim rückwärtigen Ausparken sein Fahrzeug zurück setzte, ohne sich durch eine andere Person ausweisen zu lassen oder sonstige besondere Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, und deshalb mit dem Heck seines Personenkraftwagens Audi A 8 gegen das Heck des hinter seinem Fahrzeug stehenden Personenkraftwagens Skoda der Geschädigten H. stieß.

Die Ordnungswidrigkeit des Verstoßes gegen die Grundregel und das Gebot besonderer Vorsicht beim Rückwärtsfahren ist Teil der strafbefehls- und verfahrensgegenständlichen einheitlichen Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO. Sie bildet zusammen mit dem den Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort begründenden Geschehen einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang. Beide Akte sind derart miteinander verknüpft, dass eine Abtrennung des den Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort begründenden Geschehens des Wegfahrens ohne Ermöglichung einer Feststellung der Personalien des Angeklagten und seiner Unfallbeteiligung von dem die Ordnungswidrigkeit begründenden Geschehen des Rückwärtsfahrens auf dem Parkplatz mit der Folge des schadenstiftenden Anstoßens an das Heck eines anderen Fahrzeuges zu einer unnatürlichen Aufspaltung eines an sich einheitlichen Lebensvorgangs führen würde (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 264 Rdn. 2, 2a).

Wegen der verfahrensmäßigen Verklammerung von Straftat und Ordnungswidrigkeit im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ist bisher die Ordnungswidrigkeit gemäß § 21 Abs. 1 OWiG durch die Straftat verdrängt worden. Nach Freisprechung des Angeklagten wegen der Straftat lebt jedoch gemäß § 21 Abs. 2 OWiG die Ordnungswidrigkeit wieder auf.

Einer Zurückverweisung der Sache an das Landgericht zu erneuter Verhandlung und Entscheidung nur noch hinsichtlich der gemäß § 21 Abs. 2 OWiG wieder aufgelebten Ordnungswidrigkeit bedarf es indes nicht, da die Ordnungswidrigkeit bei Erlass des Strafbefehls am 16. Februar 2010 bereits verjährt war, so dass diesbezüglich ein Verfahrenshindernis vorliegt.

Für die Straßenverkehrsordnungswidrigkeit des Verstoßes gegen das Gebot besonderer Vorsicht beim Rückwärtsfahren galt zunächst die kurze Verjährungsfrist des § 26 Abs. 3 StVG, wonach bei Ordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG die Verfolgungsverjährung drei Monate beträgt, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid ergangen noch öffentliche Klage erhoben worden ist. Danach beträgt die Verfolgungsverjährungsfrist sechs Monate.

Vorliegend war Tatzeit der 1. Oktober 2009. Die seither laufende dreimonatige Verjährungsfrist wurde mit der am 12. Oktober 2009 angeordneten Anhörung des Betroffenen gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 OWiG unterbrochen. Anschließend begann gemäß § 33 Abs. 3 S. 1 OWiG die dreimonatige Verjährungsfrist von neuem zu laufen. Innerhalb der folgenden drei Monate bis zum 11. Januar 2010 ist indes weder eine erneute Unterbrechung der dreimonatigen Verjährungsfrist erfolgt noch ein Bußgeldbescheid oder ein die Anklage ersetzender Strafbefehl (§ 407 Abs. 1 S. 4 StPO) ergangen. Der Strafbefehl datiert vielmehr erst vom 16. Februar 2010. Zu diesem Zeitpunkt war mithin die dreimonatige Verjährungsfrist nach § 26 Abs. 3 StVG bereits abgelaufen.

§ 33 Abs. 3 S. 3 OWiG, wonach, wenn die in einem bei Gericht anhängigen Verfahren zur Last gelegte Handlung gleichzeitig Straftat und Ordnungswidrigkeit ist, als gesetzliche Verjährungsfrist im Sinne des Satzes 2 – gemeint: absolute Verjährung nach dem Doppelten der gesetzlichen Frist bzw. mindestens zwei Jahren – diejenige Frist gilt, die sich aus der Strafandrohung ergibt, greift vorliegend schon deshalb nicht ein, weil Voraussetzung für die Anwendung dieser Regelung ist, dass die Ordnungswidrigkeit nicht schon verjährt war (Weller in KK-OWiG, 3. Aufl., § 33 Rdn. 117). Stellt sich in Fällen gleichzeitiger Anhängigkeit von Straftat und Ordnungswidrigkeit mit damit zunächst einhergehender Verdrängung der Ordnungswidrigkeit wider Erwarten später heraus, dass dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden kann, den strafrechtlichen Tatbestand verwirklicht zu haben, kann er wegen der wiederauflebenden Ordnungswidrigkeit nur belangt werden, sofern die für die Ordnungswidrigkeit geltende Verfolgungsverjährung zuvor jeweils rechtzeitig unterbrochen worden ist (Weller, a.a.O., Rdn. 118). Daran fehlt es hier, wie aufgezeigt.

III.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO.

(...)