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OLG Köln – Urteil v. 19.04.88

Zum Inhalt der Entscheidung: 1. Der Täter einer Unfallflucht muss zur Unfallzeit am Unfallort anwesend sein. Kommt er erst späer herzu, kann er sich nicht nach § 142 StGB strafbar machen.

2. Die in unmittelbarer Nähe des Unfallorts liegende Wohnung eines Beteiligten gehört nicht zum Unfallort.

Oberlandesgericht Köln

Urteil vom 19.04.1988

Ss 6/88

Tenor:

Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wird der Angeklagte freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

 

Aus den Gründen:

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je 60,– DM verurteilt; zugleich hat es ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Es ist im wesentlichen von folgendem Sachverhalt ausgegangen:

Der Angeklagte parkte am 16. Dezember 1986 mit seinem PKW auf der Fahrbahn an der Einmündung der (…) in die (…) schräg links an der abgerundeten Ecke. Dadurch wurde die Zeugin U als sie mit ihrem PKW von der untergeordneten (,,,) in die (…) abbiegen wollte, die ausreichende Sicht nach links in die (…) genommen. Infolgedessen stieß sie gegen 21.46 Uhr mit dem PKW des Zeugen P zusammen, der die bevorrechtigte (…) von links befuhr. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden. Etwa 5 Minuten später, als die Unfallfahrzeuge noch unverändert im Einmündungsbereich standen und die unfallbeteiligten Fahrer U und P an Ort und Stelle auf die Polizei warteten, erschien der Angeklagte, der direkt an der Unfallstelle im Hause (…) wohnt, bestieg seinen PKW, fuhr davon, stellte den Wagen ca. 42 Meter weiter vor dem Hause (…) ab und verschwand. Der Angeklagte hatte sich zur Unfallzeit in seiner Wohnung aufgehalten und war durch einen Knall auf den Unfall aufmerksam geworden. Dass der verkehrsbehindernde Standort seines PKW mitursächlich für den Unfall geworden war, hatte er aufgrund der an Ort und Stelle gegebenen Situation erkannt.

Das Amtsgericht ist der Auffassung, dem Angeklagten habe eine Warte- und Vorstellungspflicht oblegen, die er dadurch verletzt habe, dass er sein Fahrzeug vom Unfallort entfernte, auch wenn er erst nach dem Unfall an die Unfallstelle gekommen sei.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts richtet sich die (Sprung-) Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt.

II.

Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg. Das Rechtsmittel führt gemäß § 354 Abs. 1 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zum Freispruch des Angeklagten.

Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft kann dem Angeklagten schon in objektiver Hinsicht kein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort gemäß § 142 StGB zur Last gelegt werden.

Die Vorschrift des § 142 Abs. 1 StGB stellt denjenigen Unfallbeteiligten unter Strafe, der sich nach einem Unfall im Straßenverkehr vom Unfallort entfernt, bevor er entweder an der Unfallstelle anwesenden feststellungsbereiten und -berechtigten Personen, insbesondere anderen Unfallbeteiligten oder Unfallgeschädigten, Gelegenheit zu den erforderlichen Feststellungen über seine Person, sein Fahrzeug und die Art seiner Beteiligung gegeben (Nr. 1) oder – bei Nichtanwesenheit solcher Personen – angemessene Zeit vergeblich darauf gewartet hat, ob jemand bereit ist, diese Feststellungen zu treffen (Nr. 2).

Dass hier ein Unfall im Straßenverkehr stattgefunden hat, steht außer Zweifel. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts hat das Verhalten des Angeklagten – das sichtbehindernde und verkehrswidrige Abstellen des PKW im Einmündungsbereich (§ 12 Abs. 3 Nr. 1 StVO) – auch zu diesem Unfall beigetragen.

Tathandlung des § 142 Abs. 1 StGB ist das Sichentfernen vom Unfallort. Die Bestimmung setzt demnach die Anwesenheit des Täters am Unfallort voraus. Wer dort nicht anwesend ist, kann die Tathandlung – Verlassen des Unfallorts – nicht begehen (vgl. BayObLG VRS 72, 72 = VM 1987 Nr. 2). Weder eine Entfernung von einem anderen Ort als der Unfallstelle (vgl. abweichend davon die Rückkehrpflicht des § 142 StGB a.F.: LK-Rüth, StGB, 9. Aufl., § 142 Nr. 52 ff. m.w.N.) noch das Unterlassen des Aufsuchens des Unfallorts wird von § 142 Abs. 1 StGB erfasst (BayObLGSt. 1980, 59, 61; BayObLG a.a.O.; KG VRS 46, 434; Schönke/Schröder-Cramer, StGB, 23. Aufl., § 142 Rn. 40 m.w.N.).

Die entscheidende Frage ist also, ob der Täter zur Unfallzeit am Unfallort anwesend sein muss (dafür: BayObLG a.a.O.; ferner beiläufig: BGH St. 15, 4) oder ob es ausreicht, dass er erst nach dem Unfall an der Unfallstelle eintrifft, sich alsdann aber wieder entfernt (in diesem Sinn, allerdings ohne weitere Begründung: BGH VRS 6, 33; Gramer a.a.O. Rn. 40 a.E.; LK-Rüth, StGB, 10. Aufl., § 142 Rn. 31).

Die Auffassung, wonach der Täter zur Unfallzeit am Unfallort anwesend sein müsse, verdient den Vorzug, weil sie zu klareren Ergebnissen führt und dabei nicht dem bloßen Zufall Raum lässt.

Geht man vom Wortlaut des § 142 Abs. 1 StGB aus, könnte allerdings auch ein Unfallverursacher erfasst werden, der erst nach dem Unfall an der Unfallstelle eintrifft, sich dann aber wieder entfernt, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen oder angemessene Zeit auf das Erscheinen feststellungsbereiter Personen zu warten (BayObLG a.a.O.). Denn das Erfordernis der Anwesenheit des Täters am Unfallort sagt noch nichts über den Zeitpunkt aus.

Indes ist zu beachten, dass die Pflichten des § 142 Abs. 1 StGB weitgehend nicht auf einen Unfallverursacher „passen“, der erst nach dem Unfall an die Unfallstelle kommt. Das gilt namentlich für die Wartepflicht des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Kehrt nämlich der Unfallbeteiligte erst nach Stunden, Tagen oder gar Wochen an die Unfallstelle zurück, wäre es nicht sinnvoll, ihm nunmehr eine Wartepflicht aufzuerlegen. Eine solche Verpflichtung wäre mit dem Zweck des § 142 StGB, die privatrechtlichen Interessen der Unfallbeteiligten zu schützen, nicht mehr vereinbar. Denn es kann im allgemeinen nicht mehr damit gerechnet werden, dass innerhalb einer Wartezeit, die erst so spät beginnt, noch Feststellungen zu treffen sind. Eine Differenzierung nach der Länge der jeweils verstrichenen Zeit verbietet sich. Dabei würde die Strafbarkeit von bloßen Zufälligkeiten abhängig gemacht, was letztendlich zu willkürlichen Ergebnissen führen müsste. Zutreffend wird demzufolge angenommen, dass der zeitliche Zusammenhang kein brauchbares Unterscheidungskriterium darstellt, zumal objektivierbare Angaben über die Länge der verstrichenen Zeit kaum je zu erlangen sein werden. Die Frage, ob eine Verurteilung erfolgen kann, wäre in diesen Fällen stark vom Zufall geprägt. Daraus folgt, dass denjenigen, der erst nach dem Unfall zum Unfallort gelangt, keine Wartepflicht im Sinne von § 142 Abs. 1 Rn. 2 StGB trifft (BayObLG a.a.O.).

Abweichend davon geht es hier jedoch allein darum, ob die Voraussetzungen des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt sind, wenn beim (nachträglichen) Eintreffen des Unfallverursachers sich noch feststellungsbereite Personen an der Unfallstelle befinden. In solchen Fällen wäre es allerdings, wie auch die Rechtsprechung anerkennt (BayObLG a.a.O.), vertretbar, dem nachträglich eingetroffenen Unfallverursacher nunmehr die Pflichten des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB aufzuerlegen. Beachtlichere Gründe sprechen indes dafür, den nachträglich erschienenen Unfallverursacher nicht nach § 142 StGB zu bestrafen. Ausschlaggebend ist dabei folgendes Argument: Derjenige, der den Unfall aus der Ferne wahrnimmt oder von Dritten darüber unterrichtet wird, sich aber anschließend nicht zur Unfallstelle begibt, sondern entweder den Dingen ihren Lauf lässt oder sogar andere, unbeteiligte Personen zum Unfallort entsendet, um das Fahrzeug wegzusetzen oder sich sonst darum zu kümmern, könnte nicht wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 Abs. 1 StGB belangt werden. Er wäre selbst nicht am Unfallort gewesen und hätte – wie dargelegt – die Tatbestandshandlung des Sichentfernens nicht vorgenommen, denn § 142 StGB ist ein echtes Sonderdelikt, dessen Täter nur der Unfallbeteiligte sein kann (vgl. Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, 2. Aufl., Rn. 490 u. 547). Es gibt aber keinen überzeugenden Grund dafür, einen Unfallverursacher, der erst nach dem Unfall zur Unfallstelle gelangt ist und sich von dort in Kenntnis des Unfalls wieder entfernt hat, strafrechtlich schlechter zu stellen als jemanden, der sich zur Vereitelung der Feststellung seiner Eigenschaft als Unfallverursacher gar nicht erst an die Unfallstelle begibt. In beiden Fällen sind die Auswirkungen für die anderen Unfallbeteiligten so ähnlich, dass es nicht angebracht erscheint, strafrechtlich eine unterschiedliche Bewertung vorzunehmen. Die vorzeitige Entfernung des unfallursächlichen Fahrzeugs vom Unfallort führt eher in den Bereich der die Feststellungen lediglich beeinträchtigenden Spurenbeseitigungs- und Verdunklungsmaßnahmen, die von § 142 StGB nicht erfasst werden (vgl. Lackner, StGB, 17. Aufl., § 142 Anm. 4 c aa m.w.N.).

Nach allem kann ein Unfallverursacher, der sich zur Zeit des Unfalls nicht am Unfallort befunden hat, den Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB selbst dann nicht verwirklichen, wenn er später an der Unfallstelle eintrifft und diese anschließend wieder verlässt (BayObLG a.a.O.). Darüber hinaus ist in Rechtsprechung und Schrifttum – wenn auch in bezug auf andere Fallkonstellationen – anerkannt, dass zu den der Wartepflicht nach § 142 Abs. 1 StGB unterliegenden Unfallbeteiligten nur solche Personen gehören, die im Zeitpunkt des Unfalls an der Unfallstelle anwesend waren und nicht etwa nur mittelbar für den Unfall ursächlich geworden sind (vgl. KG a.a.O.; LK-Rüth, § 142 Rn. 22 – für den erst später an der Unfallstelle eintreffenden Halter -; ebenso: Cramer a.a.O. Rn. 61; Dreher/Tröndle, StGB, 43. Aufl., Rn. 13; Lackner a.a.O. Anm. 2 a; Jagusch/Hentschel, StVR, 29. Aufl., Rn. 42; Drees/Kuckuk/Werny, StVR, 5. Aufl., Rn. 4; Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 10. Aufl., Anm. 4; alle zu § 142 StGB m.w.N.). Es gibt keinen einleuchtenden Grund, den (früheren) Fahrzeugführer, der sein Fahrzeug verkehrswidrig abgestellt und sich sodann entfernt hat mit der Folge, dass sich in seiner Abwesenheit ein Unfall ereignete, mit anderen Maßstäben zu messen und strenger zu behandeln als beispielsweise den Halter, der das Fahrzeug einem ungeeigneten bzw. fahruntüchtigen Fahrer überlässt, oder den Kfz.-Handwerker, der eine Reparatur – mit Unfallfolge – nicht ordnungsgemäß ausgeführt hat, selbst aber nicht mitgefahren und an den Unfallort gelangt ist.

Zur Unfallzeit hat sich der Angeklagte nicht am Unfallort befunden. Zwar hat das Amtsgericht festgestellt, dass er damals in seiner gegenüber der Unfallstelle gelegenen Wohnung gewesen ist und die Unfallgeräusche wahrgenommen hat. Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, der Angeklagte sei zur fraglichen Zeit noch am „Unfallort“ gewesen. Unfallort ist die Stelle, an der sich das schädigende Ereignis zugetragen hat, sowie der unmittelbare Umkreis, innerhalb dessen das unfallbeteiligte Fahrzeug zum Stillstand gekommen ist bzw. hätte angehalten werden können (Cramer a.a.O. § 142 Rn. 36). Die Rechtsprechung stellt darauf ab, ob der Bereich verlassen ist, in dem feststellungsbereite Personen unter den gegebenen Umständen den Wartepflichtigen vermuten und ggf. durch Befragen ermitteln würden (OLG Hamm VRS 54, 433; KG DAR 1979, 23; BayObLG NJW 1979, 437; LK-Rüth a.a.O. Rn. 63). Diesen Kriterien zufolge war die Wohnung, in der sich der Angeklagte den Feststellungen nach zur Unfallzeit aufhielt, nicht „Unfallort“, auch wenn sie in dessen unmittelbarer Nähe gelegen hat. Denn hier wäre er nach der Sachlage nur durch reinen Zufall zu ermitteln gewesen. Selbst wenn die Wohnung die freie Sicht auf die Unfallstelle gestatten sollte und auch Geräusche von der Straße dort zu vernehmen sind, kann nichts anderes gelten, zumal es in der Regel im Belieben des Wohnungsinhabers liegt, ob und wann er öffnet.

Damit ist bereits der äußere Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB nicht erfüllt.

Auch der Tatbestand des § 142 Abs. 2 StGB kann durch einen Unfallverursacher, der erst nach dem Unfall an die Unfallstelle gekommen ist, nicht verwirklicht werden. Danach wird bestraft, wer sich berechtigt oder entschuldigt vorzeitig von der Unfallstelle entfernt, jedoch die erforderlichen Feststellungen auch nicht nachträglich ermöglicht hat. Voraussetzung einer Bestrafung nach § 142 Abs. 2 StGB ist daher, dass der Täter überhaupt eine Wartepflicht nach § 142 Abs. 1 StGB hatte (BayObLG a.a.O.; Cramer a.a.O. Rn. 42), was hier nach den vorstehenden Darlegungen nicht der Fall ist, wenn der Unfallverursacher erst nachträglich zur Unfallstelle kommt.

Nach allem ist der Angeklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils freizusprechen.

Eine Vorlagepflicht gemäß § 121 Abs. 2 GVG besteht nicht. Zwar hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 1953 (VRS 6, 33) inzidenter und ohne weitere Begründung die Ansicht vertreten, dass nach § 142 StGB a.F. strafbar sein könne, wer ein Fahrzeug – hier einen unbeleuchteten Anhänger – verkehrswidrig abstelle, erst nach einem Unfall zurückkehre und sich nunmehr von der Unfallstelle entferne. Diese Auffassung hat er jedoch in einer späteren Entscheidung (BGH St. 15, 4) eingeschränkt. Dort wird ausgeführt, Täter könne nur der „zur Unfallzeit am Unfallort Anwesende“ sein. Hinzu kommt, dass durch das 13. StrÄndG vom 13. Juni 1975 (BGBl. I S. 1349) eine umfasssende Neugestaltung derjenigen Vorschriften vorgenommen worden ist, die sich mit dem Verhalten nach einem Straßenverkehrsunfall befassen (vgl. Janiszewski a.a.O. Rn. 470). Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der Täterbegriff in § 142 StGB n.F. („Unfallbeteiligter“) gegenüber dem in § 142 StGB a.F. („wer sich… durch Flucht entzieht“) gewandelt hat. Da eine völlige Identität der Täterbegriffe nicht mehr gegeben ist, sind die in jener früheren Entscheidung (VRS 6, 33) niedergelegten Grundsätze durch die Neufassung der Gesetzesvorschrift jedenfalls überholt (vgl. BGH St. 27, 5, 10 = NJW 1976, 2354 [BGH 30.09.1976 – 4 StR 683/75]; BGH NJW 1977, 686; OLG Hamm NJW 1976, 762 [OLG Hamm 12.03.1976 – 5 Ss OWi 1146/75]; KK-Salger, StPO, 2. Aufl., § 121 GVG, Rn. 28).

(…)