Zum Inhalt springen
Startseite | LG Gießen – Beschluss v. 29.11.13

LG Gießen – Beschluss v. 29.11.13

Zum Inhalt der Entscheidung: Die Pflicht, nach einem Unfall an der Unfallstelle zu warten (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO, § 142 StGB) hat nicht stets Vorrang vor dem Verbot, auf der Autobahn zu halten (§ 18 Abs. 8 StVO).

Landgericht Gießen

Beschluss vom 29.11.2013

7 Qs 192/13

Tenor:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Gießen vom 15.10.2013 wird als unbegründet verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Aus den Gründen:

Das Amtsgericht Gießen hat mit dem angefochtenen Beschluss den Antrag der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen, zu Recht zurückgewiesen.

Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand sind keine dringenden Gründe für die Annahme vorhanden, dass dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, weil er als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist (§ 69 StGB).

Ein dringender Tatverdacht des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) besteht nicht.

Der Beschuldigte hat sich zwar tatbestandsmäßig vom Unfallort entfernt, indem er nach dem Unfallereignis auf der Autobahn weiterfuhr und erst auf dem 14 Kilometer entfernten Rastplatz anhielt. Eine Strafbarkeit gemäß § 142 Abs. 1 StGB scheidet jedoch aus, weil der Beschuldigte sich im vorliegenden Einzelfall berechtigt von der Unfallstelle entfernte und deshalb nicht die Wartezeit des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB einhalten musste. Denn er war aufgrund einer rechtfertigenden Pflichtenkollision zur Weiterfahrt berechtigt. Der Beschuldigte gab gegenüber den Polizeibeamten spontan an, es sei ihm zu unsicher gewesen, auf dem Seitenstreifen anzuhalten, weil er dadurch andere Verkehrsteilnehmer gefährden würde. Der nächste Parklatz sei gesperrt gewesen, weshalb er bis zum nächsten Rastplatz weitergefahren sei. Für den Beschuldigten bestand zum einen das Verbot des § 18 Abs. 8 StVO, auf der Autobahn zu halten. Dieses Verbot gilt auch für den Seitenstreifen. Auf der anderen Seite gilt das Halte- und Wartegebot des § 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO und des § 142 StGB. Welches dieser Gebote bei einem Unfall auf der Autobahn den Vorrang hat, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Das Verbot des § 18 Abs. 8 StVO kann in den Fällen vorgehen, in denen das Feststellungsinteresse als Schutzzweck des § 142 StGB durch eine Weiterfahrt nur geringfügig beeinträchtigt wird (vgl. Mitsch, NZV 2010, 225, 228; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 142 Rdnr. 46). Vorliegend war kein anderer Verkehrsteilnehmer an dem Unfall beteiligt und die Haftungslage war eindeutig. Durch ein Verbleiben an der Unfallstelle hätte eine weitere Aufklärung nicht erfolgen können. Auf der anderen Seite war die potentielle Gefährlichkeit des auf der Autobahn – wenn auch auf einem Seitenstreifen – stehenden Lkw für den nachfolgenden Verkehr zu berücksichtigen. Danach war dem Gebot der Weiterfahrt der Vorrang zu geben.

Auch eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist nicht gegeben.

Denn der Beschuldigte hat seine in § 142 Abs. 3 StGB konkretisierten Feststellungspflichten erfüllt, indem er auf dem Rastplatz gegenüber den Polizeibeamten seine Unfallbeteiligung einräumte. Dies geschah auch unverzüglich im Sinne des § 142 Abs. 2 StGB. Der Begriff der Unverzüglichkeit bedeutet nicht sofortiges Handeln oder den schnellstmöglichen Weg (vgl. Geppert in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., § 142 Rdnr. 154). Die am Schutzzweck des § 142 StGB auszurichtende Länge der Handlungsfrist bemisst sich nach Art und Zeit des Unfalls, der Schadenshöhe sowie der Aufklärungsbedürftigkeit der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit (vgl. Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 142 Rdnr. 65). Dabei ist zudem die im § 142 Abs. 3 StGB normierte Wahlmöglichkeit für die Mitteilung zu berücksichtigen. Nach diesen Grundsätzen hat der Beschuldigte unverzüglich gehandelt. Der Unfall ereignete sich (spätestens) um 20:45 Uhr. Die Polizeibeamten sprachen den Beschuldigten knapp eine halbe Stunde später um 21:10 Uhr an. Unter Berücksichtigung einer Fahrtstrecke von 14 Kilometern bis zum Rastplatz, der eindeutigen Haftungslage und der sonstigen Umstände des Falles ist die Mitteilung der erforderlichen Feststellungen innerhalb dieser Zeitspanne unverzüglich erfolgt. Nicht mehr unverzüglich wäre es gewesen, hätte der Beschuldigte die Angaben nicht mehr am selben Abend gemacht. Dass der Beschuldigte nicht sofort nach Erreichen des Rastplatzes die Polizei gerufen hat, ist unschädlich. In Fällen der nachträglichen Feststellungspflicht ist das Delikt nämlich erst vollendet, wenn der Zeitpunkt verstrichen ist, in dem die Meldung noch rechtzeitig hätte erfolgen können. Eine Verzögerung innerhalb des zur Verfügung stehenden Zeitraums reicht selbst dann nicht, wenn der Täter nicht die Absicht hatte, nachträgliche Feststellungen zu ermöglichen (BayObLG, VRS 67, 221).

Da der Versuch des § 142 StGB nicht strafbar ist, kann auf einen möglichen Tatentschluss des Beschuldigten keine Entziehung der Fahrerlaubnis gegründet werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.

(…)