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OLG Stuttgart – Urteil v. 15.12.80

Zum Inhalt der Entscheidung: Bei einem Unfall in der Neujahrsnacht um 04.15 Uhr mit 500,– DM (ca. 250,00 €) Fremdschaden kann eine Wartezeit von 10 Minuten ausreichen.

Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil vom 15.12.1980
3 Ss 752/80

Aus den Gründen:

I. Was die Wartepflicht nach 142 I Nr. 2 StGB betrifft, konnte die Strafkammer unter Berücksichtigtung der besonderen Umstände dieses Falles eine Wartepflicht von zehn Minuten noch für ausreichend ansehen. Nach herrschender Meinung hängt die Angemessenheit der einzuhaltenden Wartefrist entscheidend von den Umständen des Einzelfalles ab, so insbesondere davon, ob und inwieweit mit dem Eintreffen feststellungsbereiter Personen in absehbarer Zeit zu rechnen ist und welches Gewicht dabei dem Feststellungsinteresse des Geschädigten einerseits und der Zumutbarkeit weiteren Zuwartens für den Unfallbeteiligten andererseits beizumessen ist; daher kann erst die Abwägung aller diesbezüglichen Umstände die für den Einzelfall angemessene Wartefrist ergeben (vgl. statt vieler OLG Hamm, VRS 41 [1971], 28, OLG Saarbrücken, VRS 46 [1971], 187, OLG Koblenz, VRS 40, [1975], 180, OLG Stuttgart, DAR 1977, 22). Für diese Frist können in der Regel 10 Minuten nicht genügen, zumal da sich innerhalb diesen kurzen Zeitraumes nur selten absehen läßt, ob mit dem Eintreffen feststellungsbereiter Personen noch zu rechnen ist. Deshalb wird in der Rechtsprechung ein Zuwarten von nur 10 bzw. sogar 30 Minuten grundsätzlich nicht für ausreichend angesehen (vgl. BayObLG, bei: Rüth, DAR 1971, 202; 1977, 203; OLG Hamm, VRS 41 [1971], 28; 54 [1978], 117; OLG Koblenz, VRS 49 [19751, 180; OLG Stuttgart, VerkMitt 1976, 85; aber auch OLG Düsseldorf, VerkMitt 1976, 52; VRS 54 [1978], 41; OLG Hamm, VRS 59 [1980], 258, wonach 10 bzw. 30 Minuten ausreichen sollen). Diesem Grundsatz steht jedoch nicht entgegen, daß unter besonderen Umständen ausnahmsweise auch schon eine 10minütige Wartefrist genügen kann, und zwar jedenfalls dann, wenn für das baldige Eintreffen feststellungsbereiter Personen kein konkreter Anhaltspunkt vorliegt und dem Unfallbeteiligten unter Abwägung der beiderseitigen Interessen ein längeres Zuwarten nicht zuzumuten ist. Denn wie eine genauere Analyse der zuvor angeführten Rechtsprechung ergibt, war eine 10minütige Wartefrist jeweils deshalb nicht für ausreichend angesehen worden, weil einem etwaigen wartefristverkürzenden Umstand Faktoren gegenüberstanden, die ein längeres Zuwarten erforderlich und zumutbar erscheinen ließen. Sprach etwa einerseits eine geringe Schadenshöhe für eine verkürzte Wartepflicht, so konnte dem andererseits entgegenstehen, daß z. B. im Hinblick auf den Unfallort und die Unfallzeit die konkrete Möglichkeit des Eintreffens feststellungsbereiter Personen bestand. So konnte sich auch bei geringem Schaden die Wartezeit verlängern, wenn sich der Unfall in einer verkehrsreichen Gegend oder zu verkehrsbelebter Tageszeit ereignete (so z. B. im Falle von OLG Hamm, VRS 54 [1978], 117; OLG Schleswig, DAR 1978, 50), ebenso wie auch trotz relativ verkehrsarmer Gegend bzw. Nachtzeit eine Verlängerung wegen des bedeutenden Schadens in Betracht kam (vgl. OLG Koblenz, VRS 49 [1975], 180). Sprechen dagegen die in einer Gesamtschau zu ermittelnden Umstände überwiegend dafür, daß im Hinblick auf Unfallort und Unfallzeit keine konkreten Anhaltspunkte für das Eintreffen feststellungsbereiter Personen bestehen und in Abwägung der beiderseitigen Interessen im Hinblick auf die Unsicherheit des Eintreffens weiterer feststellungsbereiter Personen ein weiteres Zuwarten nicht zuzumuten ist, so kann ausnahmsweise auch schon ein 10minütiges Warten genügen.

a) Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Denn die Strafkammer konnte ohne Rechtsfehler davon ausgehen, daß mit dem Eintreffen feststellungsbereiter Personen nach 10 Minuten kaum mehr zu rechnen war. Zwar bestand sofort nach dem Unfall die Möglichkeit des Eintreffens von Anwohnern, die durch den Unfallärm aufgeschreckt wurden. Als dies aber innerhalb von 10 Minuten nicht geschehen war, konnte der Angeklagte davon ausgehen, daß niemand aus diesem Personenkreis feststellungsbereit war. Damit entfiel seine insofern bestehende Wartepflicht (so auch OLG Hamburg, VerkMitt 1967 Nr. 49; OLG Schleswig, DAR 1969, 49; OLG Saarbrücken, VRS 46 [19741, 187). Auch mit dem Eintreffen von Passanten war um 4.30 Uhr in einer reinen Wohngegend ohne Durchgangsverkehr kaum zu rechnen, ganz abgesehen davon, ob sich unter zufällig vorbeikommenden Spätheimkehrern von Silvesterfeiern noch Personen finden würden, die auch feststellungsbereit wären (vgl. OLG Hamburg, VerkMitt 1967 Nr. 49). Denn bei relativ geringerem Schaden – wobei nicht von der tatsächlichen, sondern von der vom Unfallverursacher angenommenen Schadenshöhe auszugehen ist (OLG Düsseldorf VerkMitt 1976, 52) – besteht in der Regel kein Feststellungsinteresse unbeteiligter Dritter (KG, VRS 35 119681, 23; OLG Hamm, VRS 54 [1978], 11), es sei denn, daß sie in einer persönlichen Beziehung zum Geschädigten stehen, wofür ebenfalls keine Anhaltspunkte ersichtlich waren. Als feststellungsbereiter Dritter wäre daher allenfalls die Polizei in Betracht gekommen (vgl. OLG Hamm, NJW 1977, 207). Doch mit einem derartigen rein zufälligen Eintreffen einer Polizeistreife brauchte in einem reinen Wohngebiet ohne Durchgangsverkehr selbst in der Silvesternacht gegen 4.30 Uhr nicht gerechnet zu werden. Gleiches gilt für die von der Revision vorgebrachte Möglichkeit, daß ein vom Unfallärm geweckter Anwohner, statt selbst auf die Straße zu gehen, die Polizei hätte benachrichtigen können. Denn dafür kann nicht schon die rein gedankliche Möglichkeit genügen (vgl. OLG Schleswig, DAR 1969, 49; OLG Harnbure, VRS 32 119671, 359; OLG Hamm, VRS 59 119801, 258); vielmehr hätten für eine solche Annahme konkrete Anhaltspunkte bestehen müssen, wie sie sich etwa daraus ergeben können, daß ein Nachbar ans Fenster tritt oder ein Licht aufleuchtet. Für eine solche Annahme finden sich jedoch hier keinerlei konkrete Anhaltspunkte, ganz abgesehen davon, daß der erkennbar eher geringe Schaden gegen die Annahme spricht, daß ein Nachbar die Polizei unverzüglich informiert und diese in dem hier in Frage stehenden Zeitraum tatsächlich auch eingetroffen wäre (vgl. OLG Stuttgart, DAR 1977, 22).

b) Hinzu kommt, daß auch unter Abwägung der beiderseitigen Interessen dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein weiteres Zuwarten nicht zuzumuten war. So war einerseits das Feststellungsinteresse des Geschädigten insofern nicht sonderlich hoch, da sich der angenommene Schaden nur auf 400-500 DM belief (vgl. OLG Düsseldorf, VerkMitt 1976, 52), der Unfallhergang leicht rekonstruierbar sowie die Halterhaftung nach §7 StVG gesichert war. Andererseits sah sich der Angeklagte einem naßkalten Wetter ohne entsprechende Kleidung ausgesetzt, wobei insbesondere seine Frau, die erst wenige Wochen zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden war, bei weiterem Zuwarten in dieser Witterung einen Rückfall hätte befürchten müssen. Demgegenüber vermag auch das Vorbringen der Revision, daß der Angeklagte durch aktives Tun (wie etwa durch Anbringen eines Zettels am beschädigten Pkw) die Wartezeit hätte ersetzen können, nicht durchzuschlagen. Zwar ist wiederholt einem Unfallbeteiligten, der solche Maßnahmen ergriffen hatte, eine Verkürzung der Wartefrist zugestanden worden (OLG Bremen, VRS 43 [1972], 29; OLG Koblenz, VRS 49 [1975], 180). Da aber § 142 1 StGB – im Unterschied zu § 34 I Nr. 6b StVO – vom Unfallbeteiligten gerade keine aktiven Maßnahmen verlangt (OLG Hamm, DAR 1973, 104), kann es einem Unfallverursacher zwar warteverkürzend zugute gehalten werden, wenn er sich aktiv betätigt. Da er dazu jedoch nicht verpflichtet ist, darf ihm der Verzicht auf solche aktiven Maßnahmen andererseits nicht wartefristverlängernd angelastet werden. Vielmehr verbleibt es dann bei der Wartefrist, wie sie sich nach den obengenannten Feststellungserwartungen und Zumutbarkeitskriterien ergeben hat. Nicht zuletzt mit Rücksicht darauf, daß nach Einführung der Pflicht zur unverzüglichen Nachholung der erforderlichen Feststellungen durch Neufassung des § 142 StGB von einer großzügigeren Berechnung der angemessenen Wartefrist ausgegangen werden kann (OLG Hamm, VRS 59 [1980), 258), bestehen somit unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles keine durchschlagenden Bedenken dagegen, daß die Strafkammer die Wartepflicht als noch gewahrt ansah.

2. (…)