Zum Inhalt springen
Startseite | Rechtsprechung | Rechtsprechung Unfallrecht | OLG Celle – Urteil vom 19.12.07

OLG Celle – Urteil vom 19.12.07

Zum Inhalt der Entscheidung: Bei einer Kollision zwischen einem nach links abbiegenden Kraftfahrzeug und einem nachfolgenden Motorrad, das zum Überholen angesetzt hat, greift weder ein Anscheinsbeweis zu Lasten des Auffahrenden noch zu Lasten des Linksabbiegers ein. 

 

Oberlandesgericht Celle

Urteil vom 19.12.2007

14 U 97/07

Aus den Gründen:

 

A.

Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche auf Ersatz seiner bei einem Verkehrsunfall am 26. Juli 2004 erlittenen materiellen und immateriellen Schäden unter Berücksichtigung einer eigenen Mithaftung von 50 % geltend.

Am Unfalltag befuhr der Kläger gegen 20:50 Uhr mit seinem Motorrad die Kreisstraße 61 zwischen den Ortschaften L. und B. Vor ihm fuhr mit relativ niedriger Geschwindigkeit der Beklagte zu 1 mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Geländewagen Mitsubishi. Beide Fahrzeuge kollidierten, nachdem der Kläger zum Überholen des Geländewagens angesetzt hatte und dieser seinerseits in einen links belegenen landwirtschaftlichen Weg einbiegen wollte. Der Kläger hat vorgetragen, er sei bei Einleitung des Überholvorgangs auf die Gegenfahrbahn gewechselt. Die Beklagten haben ausdrücklich eingeräumt, dass sich der Unfall „größtenteils“ auf der Gegenfahrbahn ereignet habe. Bei dem Anstoß wurde der Geländewagen des Beklagten zu 1 im Schwerpunkt an der linken hinteren Fahrzeugseite beschädigt. Durch den Aufprall seines Motorrades auf den Geländewagen wurde der Kläger von dem Krad geschleudert und erlitt erhebliche Verletzungen. Insbesondere zog er sich eine Zerreißung des vorderen und hinteren Kreuzbandes sowie einen Riss des Innenbandes und des hinteren Schrägbandes des linken Knies zu, die mehrfach operativ behandelt werden mussten. Ferner erlitt er zahlreiche Prellungen, Rippenserienfrakturen beidseits sowie rechts zusätzlich eine Einblutung in den Lungenfellraum, weshalb der Kläger nach seiner stationären Aufnahme intubiert und beatmet werden musste und an beiden Seiten Thoraxdrainagen eingelegt wurden. Die bei dem Aufprall zerrissene rechte Niere musste operativ entfernt werden. Der Kläger hat behauptet, er habe des Weiteren auch am rechten Knie Verletzungen erlitten, nämlich einen Innenmeniskusriss und eine Innenbandruptur. Das Vorliegen dieser Verletzungen haben die Beklagten bestritten. Ferner ist zwischen den Parteien umstritten gewesen, ob und inwieweit die Knieverletzungen zu einer Dauerschädigung geführt haben und ob der Kläger seinen bisherigen Beruf als Hafenfacharbeiter nicht mehr ausüben kann.

Der Kläger hat zum Unfallhergang behauptet, er habe sich zum Überholen entschlossen, weil der Beklagte zu 1 unvermindert langsam gefahren sei und keinen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt habe. Der links abzweigende landwirtschaftliche Weg sei für ihn wegen fehlender Beschilderung und dichter seitlicher Bepflanzung entlang der Kreisstraße zuvor nicht erkennbar gewesen. Als er – auf der Gegenfahrbahn – schon unmittelbar hinter dem Geländewagen des Beklagten zu 1 angelangt gewesen sei, habe dieser plötzlich nach links gezogen, sodass es für ihn – den Kläger – keine Ausweichmöglichkeit mehr gegeben habe.

Anlässlich eines Besuches im Krankenhaus – wo er allein drei Wochen auf der Intensivstation gelegen habe – habe der Beklagte zu 1 ihm – dem Kläger – gegenüber erklärt, er habe am Unfalltag infolge Unachtsamkeit das herannahende Motorrad übersehen.

Der Kläger hat behauptet, sein linkes Knie sei weiterhin nicht belastbar und schmerze. Er werde dort eine Dauerschädigung von 30 % zurückbehalten und könne infolgedessen seinen Beruf als Hafenfacharbeiter nicht mehr ausüben. Er hat deshalb ein Schmerzensgeld in Höhe von 4.000 EUR für angemessen erachtet. Darüber hinaus hat er Sachschäden im Zusammenhang mit der Beschädigung seines Motorrades sowie Zuzahlungskosten für ärztliche Behandlungen und Hilfsmittel, Fahrtkosten zu ärztlichen Behandlungen, Verdienstausfall und Aufwand wegen eines stornierten Urlaubsfluges in Höhe von insgesamt 16.485,25 EUR geltend gemacht. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf S. 5 der Klagschrift sowie die Schriftsätze vom 9. Mai und 9. Oktober 2006 (Bl. 115 ff. und 206 f. d. A.) verwiesen.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 16.485,25 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz aus 300,68 EUR seit 26. Oktober 2004 und aus 16.184,57 EUR seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen sowie

3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm auch seinen zukünftigen immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben behauptet, der Beklagte zu 1 habe – bevor er in die links deutlich sichtbare Landwirtschaftsstraße abgebogen sei – zunächst nach hinten geschaut, rechtzeitig sein linkes Blinklicht gesetzt, langsam sein Tempo weiter verringert und sich auch deutlich links eingeordnet. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Kläger in einiger Entfernung von hinten genähert. Direkt vor dem Abbiegen habe der Beklagte zu 1 nochmals in den Rück- und die Außenspiegel geschaut. Jetzt sei der Kläger weit rechts auf seiner Fahrspur gefahren. Deshalb habe der Beklagte zu 1 das Abbiegemanöver eingeleitet. Währenddessen habe er nochmals nach links auf die Straße geschaut, wo er aber kein Fahrzeug links neben sich wahrgenommen habe. Es sei deshalb nach Ansicht der Beklagten davon auszugehen, dass der Kläger wohl aus Anlass einer – unstreitig – in ca. 80 bis 100 m vor der Abzweigung vorhandenen Bodenwelle wegen einer von ihm gefahrenen überhöhten Geschwindigkeit die Kontrolle über sein Motorrad verloren habe, sodass er anschließend direkt in das Heck des Geländewagens gefahren sei. Obwohl sich der Unfall größtenteils auf der Gegenfahrbahn ereignet habe, handele es sich deshalb der Sache nach um einen eindeutigen Auffahrunfall.

Hinsichtlich der unfallbedingten Verletzungen des Klägers haben die Beklagten die Dauer des Krankenhausaufenthaltes mit Nichtwissen sowie die Verletzung des rechten Knies und eine darauf beruhende Dauerschädigung sowie eine Berufsunfähigkeit als Hafenfacharbeiter bestritten. Ferner haben sie die geltend gemachten materiellen Schäden umfänglich bestritten.

Das ursprünglich (vor einer späteren Klagerweiterung) mit dem Rechtsstreit befasste Amtsgericht Langen hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu dem Umfang und den Auswirkungen der Verletzungen des Klägers. Das Landgericht, an das der Rechtsstreit nach der Klagerweiterung verwiesen worden ist, hat sodann den Zeugen S. (Beifahrer des Beklagten zu 1) zum Unfallhergang sowie die Zeugin K1 zum behaupteten mündlichen Schuldanerkenntnis des Beklagten zu 1 und den Zeugen K2 zu einer materiellen Schadensposition vernommen. Ferner hat es eine schriftliche Aussage des Zeugen K3 zum behaupteten Schuldanerkenntnis des Beklagten zu 1 eingeholt. Wegen des Ergebnisses der durchgeführten Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. R. vom 19. Januar 2006 (Aktenhülle Bl. 99 d. A.), das Sitzungsprotokoll vom 19. März 2007 (Bl. 244 d. A.) sowie die schriftlichen Aussagen des Zeugen K3 vom 22. und 26. März 2007 (Bl. 260 und 271 d. A.) verwiesen.

Mit am 13. April 2004 verkündeten Urteil, auf das der Senat zur weiteren Sachdarstellung verweist, hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, nach der durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, dass der streitgegenständliche Verkehrsunfall durch den Kläger allein verursacht worden sei. Gegen ihn spreche wegen des unstreitigen Aufpralls auf die linke Heckseite des Geländewagens des Beklagten zu 1 der Anscheinsbeweis eines schuldhaften Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO. Der für die Annahme des Anscheinsbeweises gegen den Auffahrenden erforderliche typische Geschehensablauf werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich die Kollision im Rahmen eines Abbiegevorgangs des Beklagten zu 1 als Vorausfahrenden ereignet habe. Dem Kläger sei es auch nicht gelungen, den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis zu entkräften. Vielmehr sei die klägerische Behauptung, der Beklagte zu 1 habe den linken Blinker nicht gesetzt und sei unmittelbar vor dem bereits überholenden Motorrad plötzlich nach links gezogen, durch die Aussage des Zeugen S. sogar widerlegt. Denn dieser habe bestätigt, dass der Beklagte zu 1 den Geländewagen vor dem Abbiegen verlangsamt, den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt und sich nach links zum Mittelstreifen hin eingeordnet habe. Der Zeuge habe auf das Gericht einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Dass der Beklagte zu 1 – wie vom Kläger behauptet – nach dem Unfall erklärt habe, er habe den Kläger infolge von Unachtsamkeit übersehen, sei dagegen durch die Zeugen K1 und K3 nicht bestätigt worden. Neben seinem schuldhaften Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO sei zudem zu Lasten des Klägers eine erhöhte Betriebsgefahr des von ihm gefahrenen Motorrades zu berücksichtigen. Die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Pkw des Beklagten zu 1 falle demgegenüber nicht ins Gewicht, sodass der Kläger die Folgen des Verkehrsunfalles alleine tragen müsse.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er seine erstinstanzlichen Ansprüche weiterverfolgt. Er rügt:

Das Landgericht habe zum einen über seinen Feststellungsantrag nicht entschieden, weil dieser im Tatbestand nicht wiedergegeben worden sei und auch in den Urteilsgründen nicht erwähnt werde. Ferner sei die Annahme des Landgerichts rechtsfehlerhaft, gegen ihn – den Kläger – streite hier wegen eines Auffahrunfalls ein Anscheinsbeweis eines schuldhaften Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 StVO. Da sich der Unfall unstreitig während eines Abbiegevorgangs des Beklagten zu 1 ereignet habe, spreche stattdessen ein Anscheinsbeweis eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 1 StVO gegen den Beklagten. Auch die Würdigung der Aussage des Zeugen S. stütze die getroffene Entscheidung nicht. Denn der Zeuge habe keinerlei Angaben dazu machen können, wann – d. h. in welcher Entfernung zum Abbiegeort – der Blinker gesetzt worden sei. Der Zeuge habe auch nichts dazu sagen können, ob der Beklagte zu 1 seiner doppelten Rückschaupflicht nachgekommen sei. Das von dem Zeugen – lediglich – bekundete Setzen eines Blinkers bedeute entgegen der Auffassung des Landgerichts jedoch nicht, dass den abbiegenden Fahrzeugführer keinerlei Mitverschulden treffe und auch eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr nicht gegeben sei. Das Landgericht habe übersehen, dass die Darlegungs und Beweislast für einen fehlenden Verstoß gegen § 9 StVO hier bei den Beklagten liege.

Der Kläger beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 16.485,25 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm auch seinen zukünftigen immateriellen Schaden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 50 % zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind,

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragten,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil und verweisen darauf, dass schon der am Beklagtenfahrzeug vorhandene Heckschaden für sich genommen ein untrügliches Zeichen für ein typisches Auffahrgeschehen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Ermittlungsakte 2550 Js 22091/04 – Staatsanwaltschaft Stade – lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Senat.

B.

I.

Die Berufung des Klägers hat teilweise in dem aus dem Tenor des Senatsurteils ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

1. Haftungsgrund:

Das Schadensersatzbegehren des Klägers ist entgegen der Auffassung des Landgerichts dem Grunde nach in dem von ihm geltend gemachten Umfang (d. h. unter Mitberücksichtigung eines eigenen Mitverschuldens von 50 %) gerechtfertigt.

Der Anspruch folgt aus §§ 7, 17 StVG i. V. m. § 3 PflVersG. Da sich der streitgegenständliche Unfall beim Betrieb beider unfallbeteiligten Fahrzeuge ereignete und keiner Partei der Beweis der Unabwendbarkeit gelungen ist, hängt die Verpflichtung zum Ersatz gemäß § 17 Abs. 1 StVG im Verhältnis der Fahrzeughalter zueinander von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Dabei ist jede Partei für ein unfallursächliches Verschulden der Gegenseite beweispflichtig, wobei grundsätzlich auch die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Unter Berücksichtigung dessen gilt hier Folgendes:

a) Verschulden des Klägers:

aa) Der Kläger wendet mit seiner Berufung zu Recht ein, dass das Landgericht rechtsfehlerhaft von einem gegen den Kläger sprechenden Anscheinsbeweis eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 StVO ausgegangen ist. Zwar ist unstreitig, dass sich der Kläger und der Beklagte zu 1 zunächst in gleicher Fahrtrichtung hintereinander auf derselben Fahrspur bewegt haben und der Kläger alsdann mit seinem Motorrad gegen die linke hintere Heckseite des Geländewagens des Beklagten gefahren ist. Gleichwohl kann nicht bereits im Wege des Anscheinsbeweises als festgestellt angesehen werden, dass dieser Auffahrunfall darauf beruht, dass der Kläger unaufmerksam war oder zu dicht hinter dem Geländewagen des Beklagten zu 1 fuhr. Denn der Anscheinsbeweis greift nur ein, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt. Er ist dagegen nicht anwendbar, wenn das Schadensgeschehen Umstände aufweist, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass der Unfall anders abgelaufen ist als nach dem „Muster“ der der Anscheinsregel zugrundeliegenden Erfahrungstypik (vgl. dazu allgemein OLG Frankfurt, OLGR 2002, 51 – juris Rdnr. 1 – m. w. N.).

So liegt es jedoch hier. Denn zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Kollision zumindest „größtenteils“ (so das Vorbringen der Beklagten) auf der Gegenspur während eines Abbiegevorgangs des Beklagten zu 1 erfolgte. Auch die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten haben in ihrem Verkehrsunfallbericht vom 17. August 2004 festgehalten, dass der Zusammenstoß auf der Gegenfahrbahn erfolgte (vgl. Bl. 2 der Ermittlungsakte 2550 Js 22091/04 – Staatsanwaltschaft Stade ). Nach der Aussage des Zeugen S. in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 19. März 2007 (Bl. 244/245 d. A.) befand sich zum Kollisionszeitpunkt der Geländewagen bereits „ungefähr auf halber Strecke im Abbiegen“ und stand schon schräg. Wenn sich dasjenige Fahrzeug, auf das aufgefahren wird, jedoch schon in Schrägstellung befand, kommt ohne weiteres in Betracht, dass dessen Fahrer beim Abbiegen nicht genügend auf das nachfolgende Fahrzeug geachtet hat und in dessen Fahrbahn gefahren ist. Geht man von dieser – ernsthaften, nicht nur fernliegenden – Möglichkeit aus, dann kann es sein, dass der Nachfolgende nicht in der Lage war, auf eine solche Fahrweise des voranfahrenden Linksabbiegers rechtzeitig zu reagieren. Bei dieser Sachlage können deshalb nach zutreffender Auffassung die Regeln über den Anscheinsbeweis nicht zu Lasten des Auffahrenden angewandt werden (vgl. dazu OLG Celle – 5. Zivilsenat , VersR 1978, 964 – juris Rdnr. 19. ebenso OLG Oldenburg, VersR 1992, 842. ähnlich auch KG, MDR 2001, 808 – jurisRdnr. 17, wonach ein Schrägaufprall als atypisches Schadensbild die Anwendung des Anscheinsbeweises ausschließen kann). Zwar befinden sich hier die Schäden an dem Geländewagen des Beklagten zu 1 an dessen Heck. Dies allein begründet aber wegen der unstreitigen Schrägstellung des Wagens zum Zeitpunkt des Aufpralles keinen Anscheinsbeweis.

bb) Demnach hätte den Beklagten der Vollbeweis eines unfallursächlichen Verschuldens des Klägers oblegen. Diesen Beweis haben sie indessen nicht geführt.

(1) Ein Überholen in unklarer Verkehrslage (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO) ist dem Kläger nicht nachzuweisen.

Dass im Überholbereich links eine untergeordnete Straße abzweigte, bewirkte keine unklare Verkehrslage, ebenso wenig das unstreitige Langsamfahren des Beklagten zu 1 in diesem Bereich (vgl. OLG Nürnberg, NZV 2003, 89 – jurisRdnr. 13 m. w. N.. KG, NZV 2006, 309 – jurisRdnr. 8 und VRS 103, 403 – jurisRdnr. 14. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 5 StVO Rdnr. 35 m. w. N.). Ob dies auch noch gälte, wenn der Beklagte bereits vor dem Ausscheren des Klägers den linken Blinker gesetzt hätte, braucht nicht entschieden zu werden, denn dieser Umstand ist nicht erwiesen. Insbesondere lässt sich der Aussage des Zeugen S. nicht entnehmen, wann der Beklagte zu 1 den Blinker gesetzt und sich zur Mittellinie eingeordnet hatte und dass dies rechtzeitig erfolgt ist, bevor der Kläger seinerseits einen Überholvorgang eingeleitet hatte.

(2) Eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers lässt sich ebenfalls nicht feststellen, weil dafür hinreichende objektive Anknüpfungspunkte fehlen. Schon der Vortrag der Beklagten dazu ist ohne Substanz, denn sie stellen lediglich allgemein die Mutmaßung auf, der Kläger könne „wegen hoher Geschwindigkeit“ die Kontrolle über sein Motorrad in einer Bodenwelle verloren haben.

(3) Mangels Nachweises eines rechtzeitigen Blinkens und Einordnens des Beklagten zu 1 an die Mittellinie ist schließlich auch ein Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 7 Satz 2 StVO (Pflicht nachfolgender Fahrzeuge zum Rechtsüberholen) nicht feststellbar.

(4) Auch den Beweis eines zu geringen Abstandes des Motorrades von dem Geländewagen haben die Beklagten mit der Aussage des Zeugen S. nicht zu führen vermocht. Denn der Zeuge hat nicht mitgeteilt, ob er den Motorradfahrer vor dem Unfall überhaupt bemerkt hatte.

cc) Demnach hat das Landgericht in seine Haftungsabwägung rechtsfehlerhaft zu Lasten des Klägers ein unfallursächliches Verschulden eingestellt. Zu seinen Lasten kann vielmehr lediglich die Betriebsgefahr seines Motorrades berücksichtigt werden.

b) Verschulden des Beklagten zu 1:

aa) Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht festgestellt, dass der Kläger nicht bewiesen hat, der Beklagte zu 1 habe ihm gegenüber nach dem Unfall bei einem Besuch am Krankenbett erklärt, er habe den Kläger infolge von Unachtsamkeit übersehen. Deshalb hat der Kläger ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1 zu beweisen.

bb) Ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO wegen unterbliebenen Blinkens lässt sich wegen der gegenteiligen Aussage des Zeugen S. nicht feststellen. Ebenso wenig ist bewiesen, dass der Beklagte zu 1 das linke Fahrtrichtungsanzeichen zu spät gesetzt oder sich nicht rechtzeitig zur Mittellinie hin eingeordnet hat. Zwar hat der Zeuge S. dazu nichts Näheres sagen können. Mangels weiterer Unfallzeugen kann der Kläger jedoch das dahingehende Vorbringen des Beklagten zu 1 nicht widerlegen.

Das gilt auch für die Einhaltung der Verpflichtung zur zweiten Rückschau. Denn der Kläger hat nicht vorgetragen, wie weit er sich bei Einleitung seines Überholvorgangs noch von dem Geländewagen entfernt befand und mit welcher Geschwindigkeit er und der Geländewagen zu diesem Zeitpunkt fuhren. Nachdem außerdem die Polizei keine Unfallspuren gesichert hat und selbst die konkrete Endstellung der Fahrzeuge nicht bekannt ist, fehlen auch jegliche Anknüpfungspunkte für eine etwaige weitere Sachverhaltsaufklärung durch ein Sachverständigengutachten (welches im Übrigen vom Kläger ohnehin nicht angeboten worden ist).

cc) Der Kläger kann sich auch nicht auf einen gegen den Beklagten zu 1 sprechenden Anschein eines Verstoßes gegen dessen Pflicht zur zweiten Rückschau berufen. Zwar soll nach teilweise vertretener Auffassung bei einem Zusammenstoß zwischen Linksabbieger und Überholer ein Anscheinsbeweis dafür sprechen, dass der Linksabbieger seiner Pflicht zur zweiten Rückschau nicht nachgekommen ist (vgl. OLG Celle – 5. Zivilsenat , SP 1993, 3. KG in ständiger Rechtsprechung, z. B. NZV 2005, 413. Hentschel, a. a. O., § 9 StVO Rdnr. 55). Nach Ansicht des Senates kann dieser Auffassung in ihrer Allgemeinheit aber so nicht gefolgt werden. Denn wenn – wie hier – weder die konkret gefahrenen Geschwindigkeiten noch die Abstände der Fahrzeuge und die Zeitpunkte des jeweiligen Beginns des Überhol bzw. Abbiegevorganges bekannt sind, besteht aus den bereits oben im Hinblick auf die Person des Klägers angeführten Gründen in gleicher Weise die ernsthafte Möglichkeit, dass der vorausfahrende Abbiegende trotz ordnungsgemäßer zweiter Rückschau den beginnenden Überholvorgang des hinter ihm fahrenden Fahrzeuges nicht bemerken konnte. Es fehlt deshalb an der für das Eingreifen eines Anscheinsbeweises erforderlichen Typizität des Geschehensablaufs.

Daher kann in die Haftungsabwägung zu Lasten des Beklagten zu 1 ebenfalls nur die Betriebsgefahr von dessen Geländewagen eingestellt werden.

c) Die Abwägung der beiderseitigen Betriebsgefahren führt hier zu einer Haftungsquote von 50 : 50. Zwar trifft die Auffassung des Landgerichts, die Betriebsgefahr eines Motorrades sei gegenüber derjenigen eines Personenkraftwagens im Normalfall erhöht, nach jedenfalls teilweise in der Rechtsprechung vertretener Auffassung zu (vgl. z. B. OLG Düsseldorf, DAR 2005, 217 – jurisRdnr. 22). Fraglich ist aber schon, ob sich die besondere Betriebsgefahr des Motorrades, die in der Instabilität des Fahrzeuges begründet ist (vgl. KG, NZV 2002, 34 – jurisRdnr. 25), im vorliegenden Fall überhaupt unfallursächlich ausgewirkt hat. Dafür fehlen jegliche konkreten Anhaltspunkte. Im Übrigen ist hier auch entgegen der Auffassung des Landgerichts die Betriebsgefahr des Geländewagens erhöht, weil dieser im Abbiegen begriffen war, also ein grundsätzlich gefährliches Fahrmanöver durchführte, und dabei die Gegenfahrspur in Anspruch nahm.

2. Anspruchshöhe

(…)

3. Feststellung der Ersatzpflicht für künftige immaterielle Schäden:

a) Der Kläger rügt mit seiner Berufungsbegründung zu Recht, dass das Landgericht diesen – in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht Langen am 5. April 2006 zu Protokoll erklärten – Antrag des Klägers übergangen hat. Dies beruht ersichtlich auf einem Versehen, sodass insoweit gemäß § 321 ZPO eine Urteilsergänzung hätte herbeigeführt werden müssen. Die darauf gestützte Berufung ist gleichwohl trotz mangelnder Beschwer des Klägers nicht als zulässiger Berufungsangriff anzusehen (vgl. ZöllerVollkommer, a. a. O., § 321 Rdnr. 2). In der Berufungsinstanz kann jedoch im Wege der Klagerweiterung der Anspruch, über den die erste Instanz nicht entschieden hat, erneut geltend gemacht werden (vgl. ZöllerVollkommer, a. a. O.). In der erneuten Stellung des Feststellungsantrags durch den Kläger liegt eine dahingehende Klagerweiterung, die gemäß § 533 ZPO wegen Sachdienlichkeit auch zulässig ist.

b) Das Feststellungsbegehren ist unter Berücksichtigung des 50%igen Mitverschuldens des Klägers begründet, da bereits wegen des Nierenverlustes und der vom gerichtlichen Sachverständigen bejahten Arthrosegefahr am linken Knie spätere Folgebeschwerden nicht auszuschließen sind.

(…)