Eigener Leitsatz: 1. Bei einem Fahrstreifenwechsel im Rahmen des Reißverschlussverfahrens muss die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sein
2. Die Fahrzeugführer auf dem durchgehenden Fahrstreifen haben den Fahrstreifenwechsel im Rahmen des Reißschlussverfahrens zu ermöglichen. Allerdings haben sich die Fahrzeugführer erst unmittelbar am Beginn der Verengung einzuordnen.
Oberlandesgericht Brandenburg
Urteil vom 25.Juli 2024
Tenor
- Auf die Berufung der Beklagten wird das am 09.01.2024 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer – Einzelrichter – des Landgerichts Potsdam, Az. 11 O 290/22, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst: Die Beklagten zu 1. und 2. werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 7.444,62 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.09.2022 zu zahlen, sowie den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 800,39 € freizustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 45 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 55 %.
- Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Von der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO abgesehen.
II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang teilweise Erfolg. Der Kläger hat gegen den Beklagten zu 1. als Fahrer des bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Lkw mit dem amtlichen Kennzeichen … einen Anspruch auf Schadensersatz wegen der aufgrund des Verkehrsunfalls am 06.07.2022 auf der B1 in („Ort 01“) in Fahrtrichtung („Ort 02“) erfolgten Beschädigung des zum Unfallzeitpunkt unstreitig in seinem Eigentum stehenden Pkw Tesla mit dem amtlichen Kennzeichen … aus §§ 7, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 BGB i.V.m. § 115 VVG, § 1 PflVG in Höhe von 7.444,62 €.
1. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat keine der Parteien ein unabwendbares Unfallgeschehen, § 17 Abs. 3 StVG, nachgewiesen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Idealfahrer im Sinne dieser Vorschrift den Unfall verhindert hätte. Mithin hängt gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG die Verpflichtung zum Schadenersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes im Verhältnis der Unfallbeteiligten zueinander von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Die danach gebotene Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist dabei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. BGH, Urteil vom 07.02.2012 – VI ZR 133/11, NJW 2012, 1953). Die sich hieraus ergebenden beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile sind gegeneinander abzuwägen, und es ist eine einheitliche Haftungsquote zu bilden. Danach haften die Parteien im Verhältnis 40 % zu 60 %.
Ausgangspunkt des Unfallgeschehens ist der Spurwechsel des Klägers gemäß § 7 Abs. 4, 5 StVO. Wie der Kläger selbst ausführt, befand er sich mit seinem Pkw auf der linken den beiden Fahrspuren, die wegen einer Baustelle gesperrt war. Er beabsichtigte, auf die rechte Fahrspur zu wechseln, auf der sich der Beklagte zu 1. mit seinem Lkw befand. Der Fahrzeugverkehr staute sich über eine längere Strecke an einer Ampel und es herrschte „stop and go“. Der Fahrspurwechsel erfolgte, wie die Zeugen übereinstimmend und nachvollziehbar ausgeführt haben, im Schritttempo, wobei der Kläger nicht abrupt nach rechts lenkte, sondern – das ergibt sich auch aus der Endstellung – das Fahrzeug langsam in Richtung rechte Fahrspur fuhr. Ebenso steht zur Überzeugung des Senates fest, dass das Klägerfahrzeug vor der Kollision mit dem Lkw zum Stillstand kam. Zwar hat der Beklagte zu 1. angegeben, der Lkw habe mit angezogener Handbremse gestanden, als es zur Kollision gekommen sei. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den Aussagen der Zeugen, der Unfalldarstellung des Klägers und vor allem den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. (…) der in seinem Gutachten feststellt, dass die Spurenlage dafür spricht, dass das Klägerfahrzeug zum Kollisionszeitpunkt stand und der Lkw mit Schrittgeschwindigkeit seitlich mit dem Pkw kollidierte und diesen ca. 13 cm nach vorn schob.
Allerdings war der Spurwechsel des Klägerfahrzeugs nicht abgeschlossen. Denn – dies zeigen ebenfalls die Fotos der Unfallstelle -, das Klägerfahrzeug befand sich zu diesem Zeitpunkt lediglich in der Mitte der beiden Fahrspuren; eine vollständige Einordnung des Fahrzeugs in den fließenden Verkehr fand nicht statt. Ebenso ist der Senat nicht davon überzeugt, dass das Klägerfahrzeug vor der Kollision bereits 20 bis 30 Sekunden gestanden hat. Diese, jedenfalls im Rahmen der erneuten Vernehmung der Zeugen vor dem Senat auffallend übereinstimmende, allein subjektive Zeitangabe der Zeugen und des Klägers lässt sich schon nicht mit dem übrigen Unfallverlauf in Übereinstimmung bringen. So hat der Kläger ausgeführt, immer im Versatz mit den Fahrzeugen auf der rechten Spur gefahren zu sein. Der Lkw sei rechts hinter ihm gefahren. Zugleich führt er aus: „Den genauen Abstand zwischen diesen auf der ganz rechten Spur fahrenden Fahrzeugen und dem Lkw kann ich nicht angeben. Es war jedoch so, dass ich noch nicht richtig auf die ganz rechte Spur rüber wechseln konnte, weil in diesem ständigen ’stop & go‘-Verfahren nicht ausreichend Platz hierfür bestanden hat.“ Die Zeugin (…) hat ausgesagt: „Der Lkw hatte diesmal etwas Platz gelassen“ bzw. “Ich meinte, das der vor dem Lkw fahrende Fahrer etwas schneller angefahren ist, als der Lkw nachgesetzt hat und dadurch eine Lücke entstanden ist.“ „Der Kläger nutzte diese sich ergebende freie Stelle und fuhr nach rechts. Dann sagte mein damaliger Freund (…), dass es jetzt eng wird. Der Kläger blieb stehen und dann fuhr der Lkw hinten seitlich rechts auf… Die Äußerung meines Ex-Freundes, dass es nun eng wird, war noch im Zeitpunkt des sich Einfädelns.“ Auch wenn die Zeugin in der Anhörung vor dem Senat die Äußerung auf einen Zeitpunkt nach Halt des Klägerfahrzeugs festlegt, bleibt doch ein enger zeitlicher Zusammenhang. Auch der Zeuge (…) beschreibt den Ablauf vor dem Senat so, dass das Klägerfahrzeug „kurzzeitig“ gestanden habe, er geäußert habe, „jetzt wird es knapp“ und dann der Unfall erfolgte. Zudem beschreibt die Zeugin die Lücke auf der rechten Fahrspur mit 5 bis 10 Meter. Der Fahrspurwechsel habe sich auch schwierig gestaltet; der Schwiegervater habe bereits „geschnauft“ und gesagt, dass „er jetzt mal langsam auf die andere Spur herüber fahren müsste und ihn der Fahrer auf der rechten Spur auch mal in die Spur hineinlassen könnte.“ Selbst wenn nach allem der Lkw lediglich mit einer geringen Schrittgeschwindigkeit von 5 km/h gefahren wäre, folgt daraus eine Wegstrecke von 1,4 m/s, mithin ca. 28 m in einer behaupteten Standzeit des Klägers von 20 Sekunden. Diese Strecke vermag der Senat nicht mit der übrigen Unfalldarstellung in Übereinstimmung bringen. Zutreffend dürfte vielmehr die Aussage der Zeugin (…) sein, sie hätten „einen guten Augenblick“ gestanden, wobei dies – anders als dies die Zeugin darstellt – einen Zeitraum von deutlich weniger als 20 Sekunden erfasst.
Danach ist der Kläger, der sich an der höchsten Sorgfaltspflicht gemäß § 7 Abs. 5 StVO messen lassen muss, die auch im Zusammenhang mit dem Reißverschlussverfahren nach Abs. 4 gilt, den an ihn zu stellenden Anforderungen nicht gerecht geworden. So muss auch bei einem Fahrstreifenwechsel im Rahmen des Reißverschlussverfahrens die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sein. Dem Fahrzeugführer auf der durchgehenden Fahrspur, dem Beklagten zu 1., gebührt grundsätzlich der Vorrang (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 7 Rn. 68). Der Kläger hat sich hier schon zu früh nach rechts einordnen wollen. Zwar muss der sich auf dem bevorrechtigten rechten Fahrstreifen befindliche Beklagte zu 1. dem auf der linken Fahrspur befindlichen Kläger den Fahrstreifenwechsel im Rahmen des Reißschlussverfahrens ermöglichen. Allerdings haben sich Fahrzeugführer erst unmittelbar am Beginn der Verengung einzuordnen (BeckOK StVR/Grabow, 22. Ed. 15.01.2024, StVO § 7 Rn. 37-40). Unstreitig befanden sich jedoch noch weitere Fahrzeuge vor dem Kläger und er befand sich in einigem Abstand zu den Sperrbaken, wie auch die Unfallfotos zeigen. Der Kläger durfte sich deshalb nicht darauf verlassen, dass der Beklagte zu 1. mit seinem Fahrstreifenwechsel rechnete und ihm diesen im Sinne eines durchgeführten Reißverschlussverfahrens ermöglichen würde. Ebenso wenig besteht Anhalt für eine Verständigung der Fahrzeugführer. Zugleich war der Abstand der Fahrzeuge auf der rechten Fahrspur nicht ausreichend für einen vollständigen Spurwechsel. Der Halt des Klägerfahrzeugs im Bereich der Trennlinie der Fahrbahnen ist dabei nicht geeignet, die dadurch geschaffene Gefahrenlage zu beenden.
Andererseits musste der Beklagte zu 1. in der konkreten Unfallsituation seine Fahrweise darauf einstellen, dass der Kläger ggf. unter Missachtung seines Vorfahrtsrechts vom linken auf den rechten Fahrstreifen wechseln könnte. Denn der Unfall ereignete sich bei dichtem Verkehr in einem Bereich, in dem aufgrund der Baustelle die linke Fahrspur wegfiel und die dort fahrenden Fahrzeuge auf die rechte Fahrspur geleitet wurden. Mit einem Spurwechsel der auf der linken Fahrspur befindlichen Fahrzeuge auf die rechte Fahrspur war daher zu rechnen, auch wenn er frühzeitig erfolgte, und dieser war nach dem sog. Reißverschlusssystem vorzunehmen. Auch wenn der Beklagte zu 1. mit dem von ihm geführten Lkw gegenüber dem die Fahrspur wechselnden Kläger bevorrechtigt war, war dessen Fahrverhalten nicht ungewöhnlich oder überraschend, sondern hätte von dem Beklagten zu 1. bei einer aufmerksamen und vorausschauenden Beobachtung der Verkehrslage und der anderen Verkehrsteilnehmer antizipiert werden müssen. Hinzu kommt, dass – wie sich der Unfallverlauf nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senates gestaltet hat – der Spurwechsel nicht plötzlich erfolgte, sondern mit Schritttempo durch allmähliches Fahren in Richtung der rechten Fahrspur über eine längere Wegstrecke. Der Kläger war bereits zum Teil in die entstandene Lücke zwischen dem Lkw und dem vorausfahrenden Fahrzeug auf die rechte Spur eingefahren und dort verkehrsbedingt zum Halt gekommen. Der Beklagte zu 1. konnte und musste daher das Fahrmanöver bereits bei einfacher Aufmerksamkeit erkennen und jedenfalls im Rahmen der gegenseitigen Rücksichtnahme nach §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 3 StVO reagieren. Dabei hatte er ebenfalls mit einem Halt des Klägerfahrzeugs zu rechnen, nachdem alle Fahrzeuge sehr langsam fuhren und der Fahrzeugverkehr durch ständiges „stop and go“ gekennzeichnet war, und war durch den bereits eine gewisse Zeit andauernden Halt in der Lage und dazu auch verpflichtet, unfallvermeidend zu reagieren.
Aufgrund des besonderen Unfallverlaufes, der bei den gefahrenen geringen Geschwindigkeiten im Stau mit ständigem stop and go geprägt ist vom Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme, sieht der Senat hier einen leicht überwiegenden Verursachungsanteil des Beklagten zu 1. und bewertet diesen mit 60 %.
2. Zu ersetzen sind 60 % des mit Ausnahme der Nutzungsausfallentschädigung unstreitigen Schadens, den der Kläger mit insgesamt 12.407,70 € beziffert. 60 % hiervon sind 7.444,62 €. Ein Anspruch auf Ersatz der Nutzungsausfallentschädigung besteht nicht.
Im Grundsatz hat der Geschädigte einen Anspruch auf Zahlung einer Nutzungsausfallentschädigung für die Dauer der Reparatur bzw. – wie hier allein geltend gemacht – die Dauer der Begutachtung durch einen Sachverständigen, § 249 Satz 2 BGB (BGH, Urteil vom 29.10.1974 – VI ZR 42/73 –, BGHZ 63, 182-189, Rn. 10 – 18). Zum notwendigen Vortrag des Klägers gehören dabei auch substantiierte Darlegungen zur Nutzungsmöglichkeit und Nutzungswillen. Der Nutzungsausfallschaden ist nicht notwendiger Teil des am Kraftfahrzeug in Natur eingetretenen Schadens, der begrifflich alsbald festliegt. Vielmehr handelt es sich um einen typischen, aber nicht notwendigen Folgeschaden, der weder überhaupt noch seiner Höhe nach von Anfang an fixiert ist. Er hängt vielmehr davon ab, ob der Geschädigte den Wagen überhaupt nutzen wollte und konnte, ggf. auch durch Überlassung an Dritte (BGH, Urteil vom 23.03.1976 – VI ZR 41/74 –, BGHZ 66, 239-250, Rn. 30). Das setzt voraus, dass unter Anknüpfung an die bisherige Nutzung die ausgefallene Nutzung zumindest dargelegt wird und auch vorzutragen ist, dass aus anderen Gründen (Urlaub u.ä.) der Nutzungswille nicht unterbrochen war (KG Berlin, Urteil vom 27.08.2015 – 22 U 152/14 –, Rn. 33 m.w.N., juris; Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 249 BGB, Rn. 213; Geigel, Haftpflichtprozess, 1. Teil Allgemeine Begriffe und Rechtsverhältnisse des Haftpflichtrechts 3. Kapitel. Schadensersatz wegen Beschädigung oder Zerstörung von Sachen Rn. 97, beck-online; BHHJ/Jahnke, 25. Aufl. 2018, BGB § 249 Rn. 182). Zwar kann für einen Nutzungswillen auch die Lebenserfahrung sprechen. Anders als in dem vom Senat entschiedenen Fall (Urteil vom 27.02.2020 – 12 U 86/18 –, Rn. 4, juris) gibt es hier jedoch Anhaltspunkte, die gegen eine solche sprechen. Denn der Kläger hat selbst vorgetragen, das Fahrzeug nach Reparatur veräußert zu haben. Eine Ersatzbeschaffung ist nicht ersichtlich. Mithin fehlt es – worauf der Senat auch hingewiesen hat – an der Grundlage für die Annahme einer „allgemeinen Lebenserfahrung“ und an Vortrag zur tatsächlichen bzw. beabsichtigten Nutzung.
Weiter besteht ein Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten im Umfang des Obsiegens bei einem Streitwert von bis zu 8.000 € und einer Geschäftsgebühr von 1,3 i.H.v. 800,39 €/br.
3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 Satz 1, 713 ZPO.
Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben.