Zum Inhalt der Entscheidung: Auch durch eine Frontalkollision mit geringer Geschwindigkeitsänderung kann ein HWS-Schleudertrauma hervorgerufen werden. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an, eine generelle „Harmlosigkeitsgrenze“ existiert nicht. Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, zum Nachweis des Eintritts eines HWS-Schleudertraumas stets ein unfallanalytisches Rekonstruktionsgutachten einzuholen.
Amtlicher Leitsatz: Zur „Harmlosigkeitsgrenze“ bei einer Frontalkollision (Fortführung des Senatsurteils vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/ 02 – VersR 2003, 474 ff.).
Bundesgerichtshof
Urteil vom 08. Juli 2008
Tatbestand:
Der Kläger macht aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall der Polizeibeamtin L. geltend.
Am 7. Oktober 2003 bog die Beklagte zu 1 mit ihrem bei der Beklagten zu 2 versicherten PKW aus einem Parkplatz kommend auf die daran vorbeiführende Vorfahrtsstraße ein, ohne auf den von links herannahenden bevorrechtigten PKW der Beamtin L. zu achten. Trotz einer Vollbremsung stieß L. mit der Frontseite ihres Fahrzeugs gegen die linke Seite des PKW der Beklagten zu 1. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist außer Streit. Die Zeugin L., die vor dem Unfall beschwerdefrei war, suchte am 9. Oktober 2003 wegen Nacken- und Kopfschmerzen ihren Hausarzt Dr. G. auf, der wegen der eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule eine radiologische Untersuchung veranlasste und Tabletten verordnete. Die radiologische Untersuchung erbrachte keinen krankhaften Befund. Am 20. Oktober 2003 suchte L. erneut Dr. G. auf und klagte über fortdauernde Kopfschmerzen, körperliche Bewegungsbeeinträchtigungen sowie ein andauerndes Unwohlgefühl. Dr. G. schrieb daraufhin L. bis zum 2. November 2003 arbeitsunfähig und verordnete physiotherapeutische Behandlungen. Der Kläger erbrachte hierfür Heilfürsorgeleistungen und zahlte an L. für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit die Dienstbezüge weiter. Er behauptet, L. habe durch den Zusammenstoß ein HWS-Schleudertrauma erlitten und sei dadurch vorübergehend arbeitsunfähig geworden. Die Beklagten hätten deshalb die entstandenen Kosten von insgesamt 1.622,69 € zu erstatten.
Das Amtsgericht hat die Zeugin L. vernommen und der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht unter Zugrundelegung der Aussage der erneut vernommenen Zeugin L. und des behandelnden Arztes Dr. G. sowie des Inhalts der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zur Klärung der Frage zugelassen, ob auch bei einer Frontkollision die Grundsätze des Senatsurteils vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02 – VersR 2003, 474 ff., dem ein Heckanstoß zugrunde lag, Anwendung finden können. Die Beklagten begehren mit der Revision weiterhin die Abweisung der Klage.
Aus den Entscheidungsgründen:
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass die von L. geklagten Beschwerden auf den Verkehrsunfall zurückzuführen seien, auch wenn durch den Frontanstoß die Geschwindigkeit des PKW der Zeugin L. nur geringfügig geändert worden sei. Die Einholung eines unfallanalytischen und eines biomechanischen Gutachtens zu der Frage, ob der Unfall generell geeignet gewesen sei, eine HWS-Verletzung hervorzurufen, sei nach den Grundsätzen des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 28. Januar 2003 (VI ZR 139/02) nicht erforderlich. Allein der Umstand, dass es bei einem Unfall nur zu einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung gekommen sei („Harmlosigkeitsgrenze“), schließe die tatrichterliche Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO von der Ursächlichkeit eines Unfalls für eine HWS-Verletzung auf der Grundlage konkreter Fallumstände nicht aus. Gesicherte medizinische Erkenntnisse zu der Frage, ob und in welcher Weise im Einzelfall Muskelanspannungen und Kopfdrehungen die Entstehung einer HWS-Distorsion beeinflussen könnten, fehlten für Heck- und Frontanstöße in gleicher Weise. Stets seien die Umstände des Einzelfalles entscheidend. Habe sich der Tatrichter danach die erforderliche Überzeugung gebildet, seien weitere Begutachtungen entbehrlich. Die Zeugin L. sei durch den Unfall an der Halswirbelsäule verletzt worden und infolge dieser gesundheitlichen Beeinträchtigung arbeitsunfähig geworden. Die Schilderungen der Zeugin L. über ihren Gesundheitszustand seien glaubhaft und vereinbar mit den Bekundungen des behandelnden Arztes Dr. G. über das Ergebnis seiner Untersuchungen am 9. und 20. Oktober 2003. Auch wenn sich Dr. G. nicht mehr konkret an tastbare Verspannungen im Nackenbereich erinnern könne, sei davon auszugehen, dass solche vorgelegen hätten, obwohl sie in den ärztlichen Unterlagen nicht dokumentiert worden seien. Dr. G. würde nach seinen Angaben Tastbefunde, die regelmäßig bei HWS-Beschwerden aufträten, nicht besonders dokumentieren. Nur bei fehlenden Verspannungen trotz geklagter Beschwerden überweise er Patienten zum Chirurgen, was bei L. aber nicht geschehen sei.
II.
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.
1.
Die Feststellung des Berufungsgerichts, die Beamtin L. habe bei dem Unfall am 7. Oktober 2003 eine HWS-Distorsion erlitten, lässt entgegen der Auffassung der Revision einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Das Berufungsgericht hat nicht verkannt, dass die Frage, ob sich L. bei dem Unfall überhaupt eine Verletzung zugezogen hat, die haftungsbegründende Kausalität betrifft und damit den strengen Anforderungen des Vollbeweises gemäß § 286 ZPO unterliegt (st. Rspr.; vgl. BGHZ 4, 192, 196; Senatsurteile vom 11. Juni 1968 – VI ZR 116/67 – VersR 1968, 850, 851; vom 20. Februar 1975 – VI ZR 129/73 – VersR 1975, 540, 541; vom 21. Oktober 1986 – VI ZR 15/85 – VersR 1987, 310 und vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02 – VersR 2003, 474, 475). Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, was die Revision meint, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. BGHZ 53, 245, 256; Senatsurteile vom 9. Mai 1989 – VI ZR 268/88 – VersR 1989, 758, 759 und vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02 – aaO sowie BGH, Urteil vom 18. April 1977 – VIII ZR 286/75 – VersR 1977, 721). Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. z.B. BGHZ 160, 308, 317 m.w.N.; Senatsurteil vom 1. Oktober 1996 – VI ZR 10/96 – VersR 1997, 362, 364). Einen solchen Fehler weist die Revision nicht nach.
2.
Unter den gegebenen Umständen war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, mittels eines unfallanalytischen und eines biomechanischen Gutachtens zu klären, ob der Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion bei der Zeugin L. hervorzurufen. Das Berufungsgericht hat sich seine Überzeugung auf der Grundlage der Bekundungen der Zeugin L. und des behandelnden Arztes Dr. G. gebildet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Unfall für die geklagten Beschwerden ursächlich gewesen ist. Dagegen bringt die Revision keine durchgreifenden Beanstandungen vor. Ihr Einwand, dass die Beschwerden der Zeugin L. nicht objektivierbar seien, kann die tatrichterliche Würdigung nicht in Frage stellen. Auch soweit sie sich darauf beruft, dass bei geringfügiger Geschwindigkeit eine Verletzung der Halswirbelsäule ausgeschlossen sei, bleibt sie erfolglos.
a) Der erkennende Senat hat eine „Harmlosigkeitsgrenze“ in Form einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung für ungeeignet erachtet, um eine Verletzung der Halswirbelsäule trotz entgegenstehender konkreter Hinweise auf eine entsprechende Verletzung generell auszuschließen (vgl. Senatsurteil vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02 – aaO). Dass bei einem Zusammenstoß im Frontbereich andere Erwägungen gelten müssten als bei einem Heckanstoß, zeigt die Revision nicht auf. Ebenso fehlt Vortrag der Revision zu gesicherten medizinischen Erkenntnissen, nach denen HWS-Verletzungen bei Unfällen mit niedriger Anstoßgeschwindigkeit und einer bestimmten Anordnung der beteiligten Fahrzeuge zueinander sehr unwahrscheinlich oder gar gänzlich unmöglich seien (vgl. hierzu Wedig, DAR 2003, 393, 397 ff.). Auch wenn die Bewegungen eines Fahrers bei einer Heck- und bei einer Frontalkollision unterschiedlich sein können, kann der Senat mangels Feststellungen nicht ausschließen, dass es bei einer Frontalkollision zu einer Verletzung der Halswirbelsäule kommen kann. Die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung durch den Zusammenstoß zweier Fahrzeuge ist nicht die einzige Ursache für die Entstehung eines HWS-Syndroms, vielmehr sind hierfür eine Reihe weiterer gewichtiger Faktoren ausschlaggebend, etwa die konkrete Sitzposition des Fahrzeuginsassen oder auch die unbewusste Drehung des Kopfes. Deshalb ist eine „Harmlosigkeitsgrenze“ der erwähnten Art auch für Verletzungsfolgen aus Frontalkollisionen ungeeignet. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine HWS-Verletzung verursacht hat, sind vielmehr stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (Senatsurteile vom 28. Januar 2003 – VI ZR 139/02 – aaO und vom 3. Juni 2008 – VI ZR 235/07 – zur Veröff. best.).
b) Die Einholung eines unfallanalytischen und biomechanischen Gutachtens war unter den Umständen des Streitfalls entbehrlich. Die Revision zeigt keinen Vortrag vor dem Tatrichter auf, der die Einholung solcher Gutachten erfordert hätte. Die Sachverständigen für Unfallanalyse und Biomechanik verfügen regelmäßig nicht über die erforderliche medizinische Fachkompetenz, auf die es letztlich für die Frage der Ursächlichkeit des Unfalls für die geklagten Beschwerden ankommt (vgl. Senatsurteil vom 3. Juni 2008 – VI ZR 235/07 – zur Veröff. best.). Die individuelle Verletzungsmöglichkeit sowie die Art und Schwere der Verletzung und deren Verlauf betreffen Fragen, zu deren fachlich kompetenter Beurteilung medizinische Kenntnisse erforderlich sind. Ihre Beantwortung muss grundsätzlich dem medizinischen Sachverständigen vorbehalten bleiben. Vorliegend hat das Berufungsgericht zwar ein medizinisches Gutachten nicht eingeholt. Dies rügt die Revision jedoch nicht.
c) Soweit sie die tatrichterliche Würdigung der Aussage der Zeugen L. und Dr. G. beanstandet, aufgrund deren sich das Berufungsgericht die erforderliche Überzeugung gebildet hat, bleibt sie erfolglos. Neben dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Auftreten der Beschwerden durfte das Berufungsgericht den Umstand entscheidend würdigen, dass L. bis zum Unfall beschwerdefrei gewesen ist. Letzteres zieht die Revision nicht in Zweifel. Auch begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht den Bekundungen des Zeugen Dr. G. neben den Angaben der Zeugin L. eigenständigen Beweiswert beigemessen hat. Welche Bedeutung der medizinischen Erstuntersuchung nach einem Verkehrsunfall zukommt, ist zwar umstritten. Im Regelfall wird das Ergebnis einer solchen Untersuchung nur als eines unter mehreren Indizien für den Zustand des Geschädigten nach dem Unfall Berücksichtigung finden können (vgl. Senatsurteil vom 3. Juni 2008 – VI ZR 235/07 – Umdruck Bl. 7 z. Veröff. best.; Müller, VersR 2003, 137, 146; ebenso v. Hadeln, NZV 2001, 457 ff.). Die Bekundungen von Dr. G. über die Angaben der Zeugin L. am 9. und 20. Oktober 2003 ihm gegenüber könnten danach für sich allein schwerlich zum Beweis der Kausalität genügen. Jedoch ist im Streitfall neben den bereits geschilderten Indizien zu berücksichtigen, dass der Befund der eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule am 9. Oktober 2003 auf einer medizinischen Untersuchung der Beweglichkeit des Halses durch Dr. G. beruhte und nicht nur, wie von der Revision bemängelt, auf den Schilderungen der Beschwerden durch L. gegenüber dem erstbehandelnden Arzt Dr. G.. Schließlich durfte das Berufungsgericht einen Tastbefund von Verspannungen im Nackenbereich durch Dr. G. aufgrund der nachvollziehbaren Erklärung für die fehlende Dokumentierung für erwiesen erachten.
Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.
(…)