Zum Inhalt der Entscheidung: Die mangelnde Kenntnis der genauen Funktionsweise des Geschwindigkeitsmessgerätes ESO ES 3.0 allein begründet keine rechtliche Unverwertbarkeit des Messergebnisses
Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss vom 15.04.2013
1 SsBs 14/12
Aus den Gründen
I.
Die Kreisverwaltung K. hat gegen die Betroffene mit Bußgeldbescheid vom 14. September 2010 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ein Bußgeld und ein Fahrverbot festgesetzt. Grundlage des Bußgeldbescheids ist eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Einseitensenor 3.0 der Firma ESO in der Gemarkung R. am 18. August 2010. Auf ihren Einspruch hat das Amtsgericht Landstuhl die Betroffene mit Urteil vom 10. Februar 2011 wegen der im Bußgeldbescheid bezeichneten Ordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße von 600 € verurteilt und ein Fahrverbot von 3 Monaten angeordnet. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen hat der Senat mit Beschluss vom 16. Januar 2002 das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Landstuhl zurückverwiesen. Mit Urteil vom 3. Mai 2012 hat das Amtsgericht Landstuhl die Betroffene freigesprochen. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Rechtsbeschwerde eingelegt und das Rechtsmittel mit der Sachrüge begründet.
II.
Die gem. § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hat – zumindest vorläufig – Erfolg. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil die Feststellungen im Rahmen der Beweiswürdigung lückenhaft sind und damit den Anforderungen der §§ 261, 267 Abs. 5 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG nicht entsprechen.
Wenn auch in Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind, kann für deren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren sind die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die rechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hin. Sie müssen daher so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen. Bei einem freisprechenden Urteil müssen die Urteilsgründe gemäß § 267 Abs. 5 StPO ergeben, ob der Betroffene für nicht überführt (Freispruch aus tatsächlichen Gründen) oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angesehene Tat nicht zu ahnden ist (Freispruch aus rechtlichen Gründen). Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss der Tatrichter regelmäßig darlegen, welche Feststellungen er getroffen hat, auf welche für erwiesen erachteten Tatsachen das Gericht seine Überzeugung stützt, wie sich der Betroffene eingelassen hat und – in einer für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbaren Weise der Sachverhaltswürdigung – aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen weiteren Feststellungen nicht getroffen werden können. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, ob der den Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt ist (OLG Bamberg, Beschluss vom 18. März 2009, 2 Ss OWi 153/09, zit. nach juris).
Im vorliegenden Fall führt das Amtsgericht in den Urteilsgründen aus, die Betroffene sei aus rechtlichen Gründen freizusprechen. Welchen Sachverhalt das Amtsgericht für erwiesen erachtet, ergibt sich aus den Urteilsgründen allerdings nicht. Die weiteren Ausführungen des Amtsgerichts zeigen, dass der Freispruch aus tatsächlichen Gründen erfolgt ist, die Betroffene nämlich des Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht überführt ist. Lediglich das vorliegende Beweismittel – die Geschwindigkeitsmessung mit dem Einseitensenor 3.0 der Firma ESO – hält das Amtsgericht aus rechtlichen Gründen nicht für verwertbar. Das Amtsgericht hat sich insoweit dem Vortrag der Betroffenen angeschlossen. Die Betroffene hat das Geschwindigkeitsmessverfahren mit dem oben genannten Gerät nicht im Detail, aber dem Grunde nach angegriffen und dazu vorgetragen:
Die Messung mit diesem Gerät sei durch den Verteidiger selbst unter Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht auf die Plausibilität hin nachzuprüfen, weil der Gerätehersteller die Einsichtnahme in die Messdaten verweigere. Dies verstoße gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz und die Aufklärungspflicht des Gerichts, außerdem gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens, mithin Art 103 GG. Die Betroffene habe keine Möglichkeit ein vorhandenes Beweismittel inhaltlich nachzuvollziehen. Zudem werde ihr gewissermaßen als Zirkelschluss der BGH- Rechtsprechung zum standardisierten Messverfahren die Beweismöglichkeit versagt.
Ergänzend hat das Amtsgericht ausgeführt:
Der vorab beauftragte Sachverständige habe in seinem auch in der jetzigen Hauptverhandlung verlesenen Gutachten ausgeführt, dass zwar bei den einzelnen Fotos des Films Nr. 180003_5 bei den Einblendungen des seitlichen Abstands in Bezug auf die Aufnahmeposition der Fahrzeuge keine unplausiblen Messpositionen festgestellt werden konnten, jedoch stark abweichende Positionen einiger der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie (wobei jeweils weitere Fahrzeuge im Bereich der Fotolinie nicht festzustellen waren). Es sei deshalb, so der Sachverständige, möglich, dass eine unzulässige Bedienung des Messgerätes oder eine Fehlmessung vorgelegen habe, die in einer Ablichtung von Fahrzeugen trotz Nichterreichens oder sogar Überschreitens der Fotolinie ausgedrückt wird. Der Sachverständige habe durch Vergleich mit mehreren Messfotos des betroffenen Films Nr. 180003_5 aufgezeigt, dass es verschiedene Situationen gab, so auch die der Betroffenen, in welchen das gemessene Fahrzeug nicht mit der Fahrzeugfront an der Fotolinie stand, sondern davor oder gar schon darüber. Auch das Fahrzeug der Betroffenen sei bei Auslösung des Lichtbildes noch vor der Fotolinie befindlich gewesen, erreicht habe die Fotolinie aber bereits der dem Fahrzeug der Betroffenen zugeordnete Schattenwurf des Fahrzeugs gehabt. Vorliegend habe sich zwar nur das Fahrzeug der Betroffenen im Ablichtungsbereich befunden. Ob eine Zuordnung und damit eine plausible Messung aber tatsächlich erfolgt sei, könne der Sachverständige ohne Preisgabe der Messdaten nicht prüfen. Ihm stehe nur das ESO-eigene Auswertprogramm zur Verfügung, das eine Preisgabe der Messdaten nicht vorsehe. Die Fotolinie selbst sei aber kein Fixum für die Messung, sondern erlaube nur eine eindeutige Zuordnung der Messung zu einem bestimmten Fahrzeug. Damit sei die Richtigkeit der Messung selbst aber nicht nachweisbar, weder durch den Verteidiger vorab noch durch das Gericht. Ein wesentlicher Aspekt der Sachaufklärung in der Hauptverhandlung, § 244 Abs. 2 StPO, sei damit nicht erreichbar. Das Gericht habe feststellen müssen, dass eine tatsächliche sachverständige und damit auch gerichtliche Prüfung der Messung nicht möglich sei. Dies sei nur dann unschädlich, wenn eine Messung exakt gemäß der Bedienungsanleitung vorliege. Wenn dies nicht der Fall sei, demnach eine Fehlmessung möglich sein könne, etwa bei Nichterreichen der Fotolinie, müsse es dem Gericht und noch viel mehr dem Betroffenen möglich sein, die Messung in Gänze zu überprüfen. Dies sei hier nicht möglich. Dass ein per se fehlerfreies Gerät vorliegen soll, könne als Prämisse nicht gelten. Denn zum einen habe die Herstellerfirma schon mehrfach neue Softwareversionen aufspielen müssen, u.a. weil es Zuordnungsprobleme gab. Zum anderen wäre es dann unlogisch, eine Fehlertoleranz für das Messgerät anzugeben.
Diese Ausführungen belegen nicht, dass bei der konkreten Messung von der Bedienungsanleitung des Gerätes abgewichen worden ist. Die Abweichung sieht das Amtsgericht darin, dass das Fahrzeug der Betroffenen bei Auslösung des Bildes noch vor der Fotolinie befindlich gewesen sei und lediglich der dem Fahrzeug der Betroffenen zugeordnete Schattenwurf die Fotolinie erreicht gehabt habe. In diesem Zusammenhang führt das Amtsgericht allerdings selbst aus, der Hersteller des Geräts verweise in seiner beigezogenen und der Akte beiliegenden Bedienungsanleitung (Stand 2010) zur Problematik des „vorauslaufenden Schattens“ auf S. 43 auf einen von der physikalisch-technischen Bundesanstalt (PTB) genehmigten Hinweis, der wie folgt lautet:
„In seltenen Fällen kann die vordere Position durch Lichteffekte (z.B. vorauslaufende Schatten o. Ä.) abweichen. Diese Effekte haben keine Auswirkung auf den Geschwindigkeitsmesswert. Eine sichere Auswertung kann trotzdem erfolgen, wenn anhand der Fahrtrichtungssymbolik, der Position bezüglich der Fotolinie und des gemessenen Abstands eine eindeutige Zuordnung möglich ist. Dies ist auf jeden Fall gegeben, wenn nur ein Fahrzeug in Frage kommt.“
Damit fehlt es an einem konkreten Anhaltspunkt für eine Fehlmessung. Die mangelnde Kenntnis der genauen Funktionsweise des Geschwindigkeitsmessgerätes ESO ES 3.0 allein begründet keine rechtliche Unverwertbarkeit des Messergebnisses (Senat, Beschluss vom 19. Oktober 2012, 1 Ss Bs 12/12; OLG Hamm, Beschluss vom 29. Januar 2013, III-1 RBs 2/13).
III.
Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat verwehrt, weil das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil keine Feststellungen zum Sachverhalt getroffen hat.
Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Landstuhl zurückzuverweisen (§§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 354 Abs. 2 StPO).
IV.
Für die neue Entscheidung wird im Falle einer Verurteilung der Betroffenen Folgendes zu beachten sein:
Auch beim Ordnungswidrigkeitenverfahren kann jede vermeidbare Verzögerung den Betroffenen zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen. Diese treten mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach das Bußgeld verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss. Deshalb kann die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auch Auswirkungen auf die Höhe des Bußgeldes haben (BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 2. Juli 2003, 2 BvR 273/03, zit. nach juris)
Nach Ablauf von nahezu 2 Jahr und 8 Monaten seit der Ordnungswidrigkeit wird zu prüfen sein, ob ein Fahrverbot seinen erzieherischen Sinn noch entfalten kann (OLG Bamberg, Beschluss vom 16. Juli 2008, 2 Ss OWi 835/08, zit. nach juris).