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OLG Köln – Beschluss vom 07.04.95

Zum Inhalt der Entscheidung: Wird der Betroffene aufgrund eines Beweisfotos identifiziert, so muss das Gericht in seiner Urteilsbegründung nachvollziehbar angeben, aufgrund welcher charakteristischen Identifizierungsmerkmale es zu der Überzeugung gelangt ist, dass es sich bei der abgebildeten Person um den Betroffenen handelt. 

 

Oberlandesgericht Köln

Beschluss vom 07.04.1995

Ss 208/95 Z – 102 Z

(…)

Gründe

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (§§ 41 Abs. 2 Nr. 7 – Zeichen: 274 -, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO i.V.m. § 24 StVG) zu einer Geldbuße von 150,00 DM verurteilt. Es hat festgestellt:

„Am 3. Oktober 1993 befuhr der Betroffene gegen 15.39 Uhr mit dem PKW… in H.-V. die B 265… Dabei wurde seine Geschwindigkeit… mit dem Radargerät Multanova 6 F gemessen… Die hier zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 70 km/h. Die gemessene Geschwindigkeit betrug 113 km/h. Nach Abzug von 3 % (= 4 km/h) verbleiben 109 km/h, also eine Überschreitung von 39 km/h. Da der Betroffene auf dem ihm zugeschickten Anhörungsbogen bestritt, der Fahrer des gemessenen Fahrzeuges gewesen sein, wurde das von dem Meßgerät gefertigte Foto des Betroffenen der für seinen Wohnort zuständigen Polizeidienststelle B. zugeschickt. Hier erkannten die Polizeibeamten M., B., W. und G. auf dem Foto den ihnen bekannten Betroffenen wieder.“

Die Einlassung des Betroffenen, nicht er, sondern sein Vetter W. W. habe den Wagen zur Tatzeit gesteuert, hat das Amtsgericht für widerlegt erachtet. Der Zeuge W. W. habe ausgesagt, er benutzte den Wagen manchmal, könne sich aber an eine Fahrt am Tattag nicht erinnern. Demgegenüber hätten die Zeugen M., B., W. und G. bekundet, auf dem ihrer Dienststelle zugesandten Foto den ihnen bekannten, in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen erkannt zu haben. Aufgrund dieser Beweissituation hat das Amtsgericht die Überzeugung gewonnen, daß der Betroffene der Fahrer gewesen ist.

Gegen dieses Urteil richtet sich der Zulassungsantrag des Betroffenen. Er beanstandet die Beweiswürdigung als rechtsfehlerhaft unvollständig, weil sich der Tatrichter, was die Identifizierung angehe, allein auf Zeugenaussagen gestützt und das Ergebnis des eigenen Augenscheins nicht verwertet habe.

Die gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulassende Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz (§ 79 Abs. 6 OWiG).

Mit Recht bemängelt der Betroffene die Beweiswürdigung des Amtsgerichts. Diese muß auch im Bußgeldverfahren so beschaffen sein, daß sie dem Beschwerdegericht die rechtliche Überprüfung ermöglicht (vgl. Göhler, OWiG, 11. Aufl., § 71 Rn. 43). Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung unter anderem, wenn sie bedeutsame Lücken aufweist und insbesondere nicht alle aus dem Urteil ersichtlichen Umstände berücksichtigt, die Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen zulassen (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 41. Aufl., § 337 Nr. 27, 29 m.w.N.). So verhält es sich hier. Das Amtsgericht hat seine Überzeugung davon, daß der Betroffene den ihm zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß begangen habe, allein damit begründet, es bestehe Personenidentität zwischen dem auf dem Radarfoto abgebildeten Fahrzeugführer und dem Betroffenen. Diese Schlußfolgerung setzt voraus, daß der wesentliche Inhalt des Meßfotos mit dem Erscheinungsbild des Betroffenen verglichen wird. Insoweit hat der Tatrichter indes nicht das Ergebnis des eigenen Augenscheins verwertet. Er hat sich vielmehr auf die Augenscheinseinnahme durch 4 Polizeibeamte verlassen, die lediglich bekundet haben, der ihrer Dienststelle übermittelte Abzug des Radarfotos zeige den ihnen bekannten, in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen. Diese Beweiswürdigung ist unvollständig. Hätte der Tatrichter die Identitätsfeststellung aufgrund eigenen Augenscheins vorgenommen, wäre er nach der Rechtsprechung zumindest verpflichtet gewesen, im Urteil die einerseits auf dem Lichtbild und andererseits an dem Betroffenen erkennbaren charakteristischen Identifizierungsmerkmale zu nennen (vgl. Senat NZV 1991, 122 = VRS 80, 374; SenE vom 10.06.1994 – Ss 201/94 (B) – und vom 13.01.1995 – Ss 532/94 (B) -; jeweils m.w.N.). Darüber hinaus wäre es nach bislang herrschender Meinung (vgl. den Vorlagebeschluß des Senats vom 13.01.1995 m.w.N.; anderer Auffassung: OLG Oldenburg VRS 87, 202) erforderlich gewesen, auch die Art und das Maß der Übereinstimmung dieser Merkmale anzugeben. Wird die Identifizierung – wie hier – nicht auf den eigenen Augenschein des Tatrichters gestützt, sondern ausschließlich auf die Erkenntnisse von Zeugen, die das Meßfoto betrachtet haben, dürfen an die Beweiswürdigung keine geringeren Anforderungen gestellt werden. Deshalb ist im Urteil jedenfalls darzulegen, aufgrund welcher charakteristischen Merkmale die Zeugen den Betroffenen als die auf dem Radarfoto abgebildete Person identifiziert haben wollen. Da der Tatrichter (im Unterschied zur eigenen Augenscheinseinnahme) nicht ohne weiteres feststellen kann, ob das Identitätsurteil der Zeugen verläßlich ist, sind nähere Ausführungen dazu geboten, welche Identifizierungsmerkmale die Zeugen ihrer Berurteilung zugrunde gelegt haben. Daran fehlt es hier. Die bloße Mitteilung, die Polizeizeugen hätten den Betroffenen auf dem ihnen überlassenen Radarfoto wiedererkannt reicht nicht aus, um die Feststellung, der Betroffene sei Fahrzeugführer gewesen, hinreichend zu belegen. Hinzu kommt, daß der Zeuge W., der Vetter des Betroffenen, ausgesagt hat, er benutze den Wagen manchmal, könne sich aber an eine Fahrt am Tattag nicht erinnern. Nach diesen Bekundungen ist jedenfalls die Möglichkeit, daß der Zeuge W. zur Tatzeit am Steuer gesessen haben könnte, nicht ausgeschlossen. Schon aus diesem Grund hätte sich der Tatrichter veranlaßt sehen müssen, im Rahmen der Beweiswürdigung darzulegen, daß (und weshalb) den Zeugen, die den Betroffenen auf dem Lichtbild wiedererkannt haben wollen, keine Verwechslung, etwa mit dem Zeugen W., unterlaufen sein kann. In diesem Zusammenhang wäre es zudem erforderlich gewesen, das Ausmaß der „Bekanntschaft“ zwischen dem Betroffenen und den Polizeizeugen zu konkretisieren, wenn daraus auf die Verläßlichkeit des Wiedererkennens geschlossen werden soll (vgl. Senat StV 1994, 67, 68). Da sich die Beweiswürdigung des Amtsgerichts mit alledem nicht auseinandersetzt, ist das Urteil schon deshalb unvollständig.

Abgesehen davon ist die Beweiswürdigung auch insofern lückenhaft, als das Amtsgericht bei der Identitätsfeststellung nur auf Zeugenaussagen gestützt und das Ergebnis des eigenen Augenscheins nicht in die Wertung einbezogen hat. Zwar muß die Entscheidung, ob eine Augenscheinseinnahme erforderlich ist oder nicht, in der Regel allein dem pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters überlassen bleiben (§ 244 Abs. 5 StPO). Anders als der Zeugenbeweis ist die Augenscheinseinnahme nämlich durch andere Beweismittel ersetzbar (vgl. OLG Hamm VRS 34, 61). Von ihr darf abgesehen werden, wenn die gewünschten Erkenntnisse dem Gericht durch andere Beweismittel ebenso zuverlässig übermittelt werden können (vgl. OLG Hamm a.a.O.; Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 224 m.w.N.). Als solche Beweismittel kommen neben Sachverständigen auch Zeugen in Betracht, die sich ihrerseits von dem Zustand oder Vorgang unterrichtet haben und vor dem Tatgericht über ihre Wahrnehmungen aussagen (vgl. RG St. 47, 101, 106; BGHSt. 27, 135 = JR 1978, 117, 118; BayObLG, bei Rüth, DAR 1967, 294; OLG Hamm, a.a.O.; Alsberg/Nüse/Meyer, a.a.O., S. 225), wobei es keinen Unterschied macht, ob diese Zeugen ihre Wahrnehmungen im Auftrag des Gerichts als sog. Augenscheinsgehilfen oder auf eigene Veranlassung bzw. auf Veranlassung Dritter (z.B. der Ermittlungsbehörde) getroffen haben (vgl. LR-Dahs, StPO, 24. Aufl., § 86 Rn. 5; Alsberg/Nüse/Meyer a.a.O. S. 228). Ungeachtet dessen ist der Tatrichter jedoch gemäß § 261 StPO, der im Bußgeldverfahren sinngemäß gilt (vgl. Göhler a.a.O. § 71 Rn. 40), verpflichtet, eine umfassende Beweiswürdigung vorzunehmen und dabei alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu würdigen und dem Urteil zugrunde zulegen, sofern nicht im Einzelfall ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht (vgl. BGHSt. 29, 109, 110; Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O., § 261 Rn. 6 m.w.N.). Hat er im Rahmen ihrer Hauptverhandlung selbst den Augenschein eingenommen, kann dieser Umstand nicht unberücksichtigt bleiben, sondern muß in die Beweiswürdigung einbezogen werden. Wenn sich, wie hier nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe anzunehmen, ein Radarfoto bei den Akten befindet, das der wesentliche Anknüpfungspunkt für Ähnlichkeitsvergleich und Identifizierung ist, kann der Tatrichter das ihm bekannte Lichtbild nicht ignorieren, sondern muß sich damit auseinandersetzen, welchen Eindruck er selbst über die Identität der dort abgebildeten Person mit dem in der Hauptverhandlung persönlich anwesenden Betroffenen gewonnen hat (vgl. OLG Schleswig, bei Lorenzen/Thamm, SchlHA 1993, 228; Göhler, a.a.O., § 71 Rn. 47 a). Eine Überzeugungsbildung, die hinsichtlich der Identifizierung nur auf die Bekundungen von Zeugen, die das Meßfoto gesehen haben, abstellt und das Ergebnis der unmittelbaren Anschauung außer Acht läßt, ist notwendig unvollständig. So kann lediglich verfahren werden, wenn das Radarfoto dem Tatgericht nicht mehr zur Einsichtnahme zur Verfügung steht, etwa weil es verloren gegangen ist. Existiert das Lichtbild dagegen und ist (wie hier) davon auszugehen, daß es vom Tatrichter bei der Sitzungsvorbereitung eingesehen wurde und Gegenstand der Hauptverhandlung war, so muß der durch unmittelbare Anschauung gewonnene Eindruck des Gerichts über die Identität des persönlich anwesenden Betroffenen mit dem fotografierten Fahrzeugführer nutzbar gemacht und bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Das ist hier rechtsfehlerhaft unterblieben. Zwar ist der Tatrichter nicht gehindert, die Aussagen derjenigen Zeugen, die den Betroffenen auf dem Meßfoto wiedererkannt haben wollen, unter den genannten Voraussetzungen für seine Überzeugungsbildung ebenfalls heranzuziehen, jedoch darf er sich damit nicht begnügen, sondern muß auch und in erster Linie die Ergebnisse des eigenen Augenscheins verwerten.

Das angefochtene Urteil kann nach allem keinen Bestand haben. Eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst kommt nicht in Betracht, weil die Beweiswürdigung allein Sache des Tatrichters ist (vgl. Göhler a.a.O., § 71 Rn. 43 a.m.w.N.). Die Sache ist daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung unter Beachtung der angeführten Grundsätze an die Vorinstanz zurückzuverweisen.