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OLG Karlsruhe – Beschluss vom 16.10.06

Zum Inhalt der Entscheidung: 1. In den Urteilsgründen muss angegeben werden, ob und wie der Betroffene sich zur Sache eingelassen hat. Wird dies versäumt, liegt ein sachlich-rechtlicher Mangel des Urteils vor, wenn die Möglichkeit besteht, dass sich der Betroffene in eine bestimmte Richtung verteidigt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter die Bedeutung der Erklärung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat.

2. Bei Verwendung eines standardisierten Meßverfahrens müssen das verwendete Verfahren und die berücksichtigte Meßtoleranz in den Urteilsgründen angegeben werden.

3. Bei einer Messung durch Videodistanzauswertung kann eine fehlende Eichung des Messgerätes oder ein Reifenwechsel mit unterschiedlicher Reifengröße einen erhöhten Sicherheitsabschlag bedingen.

 

Oberlandesgericht Karlsruhe

Beschluss vom 16.10.2006

1 Ss 55/06

 

Tenor:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe vom 15. Februar 2006 aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Karlsruhe zurückverwiesen.

 

Aus den Gründen:

I.

Wegen fahrlässigen Überschreitens der außerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 47 km/h setzte das Amtsgericht (…) mit Urteil vom 15.02.2006 gegen den Betroffenen eine Geldbuße von EUR 100 sowie ein einmonatiges Fahrverbot fest. Nach den getroffenen Feststellungen hatte dieser am 17.7.2005 gegen 11.07 Uhr die BAB 5 (…) in Fahrtrichtung (…) in Höhe der Gemarkung Z. trotz der dort angeordneten Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 km/h mit seinem Kraftfahrzeug mit einem Tempo von 167 km/h befahren. Gegen seine Verurteilung wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit welcher er die Sach- und Verfahrensrüge erhebt.

II.

Dem Rechtsmittel kann schon aufgrund der erhobenen Sachrüge ein zumindest vorläufiger Erfolg nicht versagt bleiben.

Auch wenn an die Gründe eines Urteils im Bußgeldverfahren keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen, müssen sie doch zumindest so beschaffen sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung der richtigen Rechtsanwendung möglich ist. Dem genügt das angefochtene Erkenntnis nicht.

1. So lässt das Urteil zunächst nicht erkennen, ob sich der Betroffene in der Hauptverhandlung geäußert oder von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Auch bleibt unklar, ob der Tatrichter einer etwaigen Einlassung gefolgt ist oder sie für widerlegt angesehen hat. Der Beweiswürdigung lässt sich lediglich entnehmen, dass in der Hauptverhandlung die polizeilich gefertigte schriftlich Videodistanzauswertung verlesen und die gefertigte Videosequenz in Augenschein genommen wurde. Diese Säumnis stellt aber jedenfalls dann einen sachlich rechtlichen Mangel des Urteils dar, wenn die Möglichkeit besteht, dass sich der Betroffene in eine bestimmte Richtung verteidigt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter die Bedeutung der Erklärung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat (OLG Koblenz VRS 71, 42 f.; OLG Oldenburg StV 1984, 374; vgl. auch Göhler, OWiG, 14. Aufl. 2006, § 71 Rn. 43).

Grundsätzlich gilt, dass der Tatrichter die tragenden Beweismittel und deren Würdigung in den Urteilsgründen mitzuteilen hat. Bei der Verurteilung wegen Überschreitens der zulässigen Geschwindigkeit gehört hierzu jedenfalls die Darlegung der Messmethode, deren genaue Messbedingungen und konkrete Einhaltung (OLG Düsseldorf VRS 89, 380).

Folgt der Richter dem Gutachten eines Sachverständigen, hat er die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Ausführungen des Gutachters so darzulegen, dass das Rechtsmittelgericht prüfen kann, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Grundlage beruht und die Schlussfolgerungen nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind (BGHSt 47, 291 ff., 296).Liegt hingegen ein uneingeschränktes und glaubhaftes Geständnis des Betroffenen vor, darf sich der Tatrichter im Regelfall hierauf verlassen, so dass es sogar der Angabe des Messverfahrens und des angenommenen Toleranzwertes nicht bedarf (Saarländisches Oberlandesgericht VRS 110, 433 ff.; Thüringer Oberlandesgericht VRS 107, 301 f.). Diese beiden Angaben sind hingegen notwendig aber auch ausreichend, wenn sich der Tatrichter auf das Ergebnis eines wissenschaftlichen anerkannten standardisierten Messverfahrens stützt (BGHSt 43, 291 ff., 297; OLG Köln NZV 2000, 97 ff.; Karlsruher Kommentar OWiG – Senge, 3 Aufl. 2006, § 71 Rn. 110). Besteht aber besonderer Anlass zur Erörterung der Zuverlässigkeit der zu Anwendung kommenden Messmethode oder theoretisch anerkannter Fehlerquellen (BGHSt 43, 277 ff., 301; OLG Brandenburg DAR 2005, 161), muss sich der Tatrichter damit auseinandersetzen. Ob ein solcher Grund besteht, kann das Rechtsbeschwerdegericht aber nur dann beurteilen, wenn die Einlassung des Betroffenen in ihren wesentlichen Grundzügen mitgeteilt wird. Macht der Betroffene etwa konkrete Messfehler geltend oder erhebt Bedenken an der Gültigkeit der Eichung des Messgeräts, so muss sich aus dem verurteilenden Erkenntnis ergeben, ob und ggf. aus welchen Gründen der Tatrichter diese Einwendung als widerlegt ansieht oder sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen für unerheblich hält.

Auch hinsichtlich der Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs bedarf es der Mitteilung der Einlassung des Verfolgten. Nur in diesem Fall kann der Senat nämlich prüfen, ob der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, welche es ausnahmsweise gebieten, von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen (vgl. Senat, Beschluss vom 27.3.2001, 1 Ss 163/04: Augenblicksversagen; zu einem Ausnahmefall, vgl. Senat DAR 2006, 227 f.: Rückgriff auf in Bezug genommene Lichtbilder der Verkehrsüberwachung).

2. Auch unabhängig hiervon genügt das Urteil nicht den Anforderungen an die erforderlichen Darlegungen bei Verwendung eines standardisierten Messverfahrens.

Ihm lässt sich nämlich lediglich entnehmen, dass die Messung mittels Hinterherfahrens und Aufzeichnung der Fahrweise des Betroffenen auf Video mit der Videodistanzauswertung – einem standardisierten Messverfahren – erfolgt und die Verkehrsfehlertoleranz bei der Geschwindigkeit von 167 km/h bereits abgezogen worden sei. Zwar sind – wie bereits ausgeführt – die Anforderungen an die Begründung des tatrichterlichen Urteils in einem solchen Fall eingeschränkt. Da aber die Zuverlässigkeit der verschiedenen in der Praxis verwendeten Messmethoden und ihr vom Tatrichter zu beurteilender Beweiswert naturgemäß voneinander abweichen, muss der Tatrichter, um dem Beschwerdegericht die Kontrolle der Beweiswürdigung zu ermöglichen, neben dem angewendeten Messverfahren jeweils auch den berücksichtigten Toleranzwert angeben. Da es aber mehrere Videonachfahrsysteme gibt (anschaulich Burhoff – Hrsg – Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2005, Rn. 1138 ff.), ist die Bezeichnung des bei der Messung verwendeten Verfahrens erforderlich (OLG Schleswig SchlHA 2005, 336; Brandenburgisches Oberlandesgericht DAR 2005, 97). Dies ergibt sich bereits daraus, dass bei den verschiedenen Systemen zum Ausgleich von Messtoleranzen unterschiedliche Werte gelten. So wird etwa von der Rechtsprechung für die ProViDA-Anlage (OLG Celle VRS 92, 435; OLG Köln DAR 1999, 516), das Proof-Speed-Messgerät (BayObLG DAR 1998, 360) oder das Police-Pilot-System (OLG Hamm VRS 100, 61; KG VRS 88, 473) bei gleichbleibendem Abstand ein Toleranzabzug von 5 km/h bzw. 5% für notwendig erachtet (OLG Düsseldorf VRS 99, 297 f.; OLG Celle VRS 92, 435), wohingegen für das Messsystem ViDistA VDM-R wegen der mathematischen Berechnung anhand der Videoaufzeichnung zum Ausgleich von Messungenauigkeiten bei der Auswertung nur die Beachtung von Verkehrsfehlergrenzen sowohl bei der Zeitmessung als auch des ermittelten Weges erforderlich ist (Brandenburgisches Oberlandesgericht DAR 2005, 162). Auch kann die Wiedergabe der konkret in Abzug gebrachten Messtoleranz im Einzelfall entbehrlich sein, wenn an deren Stelle der Gerätetyp des verwendeten Messgerätes angegeben wird, weil in einem solchen Falle angenommen werden kann, dass bei der Messung vom Hersteller verwendeten Verkehrsfehlergrenzen abgezogen wurden (Brandenburgisches Oberlandesgericht DAR 2005, 162).

III.

Da solche zureichenden Feststellungen dem Urteil nicht zu entnehmen sind, war dieses aufzuheben und an eine andere Abteilung des Amtsgericht (…) zur neuen Verhandlung zurückzugeben (§ 349 Abs. 4 StPO i.V.m. §§ 79 Abs.1 Nr. 2, Abs.3, Abs. 4, 80 a Abs.1 OWiG).

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass eine fehlende Eichung des Messgerätes (KG NZV 1995, 37) oder ein Reifenwechsel mit unterschiedlicher Reifengröße (OLG Celle VRS 92, 435) einen erhöhten Sicherheitsabschlag bedingen kann.