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OLG Hamm – Beschluss vom 30.10.06

Zum Inhalt der Entscheiidung: Berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge des angeordneten Fahrverbotes, wie z.B. die Inanspruchnahme von Urlaub sowie die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxen sind als selbstverschuldet hinzunehmen.  Sie reichen nicht aus, um von der Festsetzung eines Regelfahrverbots abzusehen. Notfalls muss ein Kredit aufgenommen werden.

 

Oberlandesgericht Hamm

Beschluss vom 30.10.2006

2 Ss OWi 237/06

 

Aus den Gründen:

I.

Der Landrat des N-Kreises hat mit Bußgeldbescheid vom 17. Februar 2005 gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften eine Geldbuße in Höhe von 195,00 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats mit der Maßgabe nach § 25 Abs. 2 a StVG festgesetzt.

Auf den hiergegen rechtzeitig eingelegten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht Lüdenscheid ihn durch das angefochtene Urteil wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße in Höhe von 400,00 € verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen.

Es hat u.a. folgende persönliche und tatsächliche Feststellungen getroffen:

„Der Betroffene ist ledig, er arbeitet als Kommunikationselektriker bei der Firma J in L2.

Das Verkehrszentralregister weist folgende Eintragung auf:

Am 28.01.2004 wurde gegen den Betroffenen wegen Vorfahrtsmissachtung mit Unfall ein Bußgeld in Höhe von 60,00 € verhängt.

Am 30.06.2005 befuhr der Betroffene mit seinem Pkw Marke N, amtliches Kennzeichen (…) die Bundesstraße X Straße in B in Fahrtrichtung B. In Höhe Parkplatz P geriet er in eine Radarkontrolle mit dem Geschwindigkeitsmessgerät Riegl LR90-235/P. An dieser Stelle bestand eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h. Das Geschwindigkeitsmessgerät stellte eine Geschwindigkeit des Pkw’s von 125 km/h fest.

Nach Abzug des Toleranzwertes von 4 km/h ist so von einer Geschwindigkeit von 121 km/h auszugehen. Da die Geschwindigkeit an der Messstelle auf

70 km/h begrenzt war, ist festzustellen, dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 51 km/h überschritten hat.“

Das Absehen von der Verhängung des noch im Bußgeldbescheid gem. § 4 Abs. 2 BKatV festgesetzten einmonatigen Regelfahrverbotes hat das Amtsgericht wie folgt begründet:

„Der Betroffene bestreitet nicht die gemessene Geschwindigkeit. Er bittet jedoch darum, von einem Fahrverbot abzusehen. Hierzu trägt er im Wesentlichen vor, dass er mit öffentlichen Verkehrsmitteln seinen Arbeitsplatz in L2 nicht erreichen kann und aufgrund der Kosten auch eine Inanspruchnahme eines Taxis oder ein Umzug nicht möglich ist. Darüber hinaus gehört zu seiner Berufsausübung auch, dass er selbständig zu Kunden fährt und dort bei Kunden Computer einrichten muss. Seinen Resturlaub von 27 Tagen kann er auch nicht in einem Stück nehmen. Im Falle eines Fahrverbots muss er mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes rechnen. (…)

Das Gericht hat aber von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen, weil hier ein Ausnahmetatbestand im Sinne von § 4 Abs. 4 Bußgeldkatalogverordnung gegeben ist. Das Fahrverbot würde für den Betroffenen eine unangemessene Härte bedeuten. Es wäre in Anbetracht der gegebenen Umstände verfehlt und würde dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widersprechen.

Der Betroffene hat glaubhaft dargelegt, dass er im Falle eines Fahrverbots mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes rechnen muss. Er kann dann nämlich den ihm auferlegten Verpflichtungen, auch selbständig zu Kunden zu fahren und dort Computer einzurichten, nicht nachkommen. Eine Inanspruchnahme seines gesamten Resturlaubs ist auch nicht möglich. Darüber hinaus ist es für den Betroffenen nicht möglich, seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Öffentliche Verkehrsmittel stehen zu den genannten Zeiten von Q nach L2 in nicht angemessener Weise zur Verfügung. Die Inanspruchnahme eines Taxis oder ein vorübergehender Umzug scheiden aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten aus. Darüber hinaus hat sich der Betroffene in der Hauptverhandlung als einsichtige, angenehme Persönlichkeit dargestellt. Der positive Gesamteindruck wurde auch noch dadurch verstärkt, dass der Betroffene, der erst fünf bis sechs Kilometer nach der Messstelle von den Zeugen angehalten wurde, von Anfang an nicht in Abrede gestellt hat, zum Tatzeitpunkt mit dem Fahrzeug unterwegs gewesen zu sein und die Geschwindigkeitsmessung an sich nicht anzweifelte.

Nachdem erscheint es ausnahmsweise angebracht, von der Verhängung eines Fahrverbots unter Erhöhung der Geldbuße abzusehen. Das Gericht betrachtet die verhängte Geldbuße als tat- und schuldangemessen.“

Das Urteil ist der Staatsanwaltschaft Hagen, die nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hatte, am 27. Dezember 2005 zunächst ohne Gründe zugestellt worden, da die Staatsanwaltschaft vor der Hauptverhandlung keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt und der Betroffene auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet hatte. Das begründete Urteil ist der Staatsanwaltschaft sodann am 30. Januar 2006 zugestellt worden. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, die sie unter näheren Ausführungen mit der Sachrüge begründet und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat und der die Generalstaatsanwaltschaft mit ergänzenden Ausführungen beigetreten ist.

II.

Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache zumindest vorläufig Erfolg. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Rechtsfolgenausspruch und im Umfang der Aufhebung zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Lüdenscheid.

1.

Gegen die Wirksamkeit der Beschränkung der Rechtsbeschwerde bestehen keine Bedenken.

Die vom Amtsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen einer fahrlässigen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäß den § 41 Abs. 2 (Zeichen 274), 49 StVO, 24 StVG. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das angefochtene Urteil sich hinsichtlich der Feststellungen zur Zuverlässigkeit der Geschwindigkeitsmessung darauf beschränkt, dass die Messung mit dem Messgerät Riegl LR90-235/P vorgenommen worden sei und der Tatrichter – ersichtlich zum Ausgleich von Messungenauigkeiten – einen Toleranzwert von 4 km/h von der gemessenen Geschwindigkeit abgezogen hat. Dies ist, wenn – wie hier – keine Besonderheiten vorliegen, nach der ständigen Rechtsprechung aller Obergerichte ausreichend, zumal der Betroffene weder die Geschwindigkeitsüberschreitung an sich noch deren Höhe bestritten hat.

2.

Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs. Die Erwägungen, auf Grund derer das Amtsgericht von der Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots abgesehen hat, halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Zwar unterliegt die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalles der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden kann, in erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter (vgl. BGHSt 38, 125 ff. = NZV 1992, 286 ff.). Diesem ist jedoch insoweit kein rechtlich ungebundenes, freies Ermessen eingeräumt, das nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern hin vom Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar ist. Der dem Tatrichter verbleibende Entscheidungsspielraum ist vielmehr durch gesetzlich niedergelegte oder von der Rechtsprechung herausgearbeitete Zumessungskriterien eingeengt und unterliegt insoweit hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht, und zwar insbesondere hinsichtlich der Annahme der Voraussetzungen eines Durchschnittsfalles oder Regelfalles, zu der auch die Frage der Verhängung bzw. des Absehens von der Verhängung des Regelfahrverbotes nach der Bußgeldkatalogverordnung zu zählen ist (vgl. hierzu Entscheidung des erkennenden Senats vom 20. Mai 2005 in 2 Ss OWi 108/05 m. w. N.).

Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung hat der Betroffene berufliche und wirtschaftliche Nachteile als Folgen eines angeordneten Fahrverbotes regelmäßig hinzunehmen. Derartige Nachteile rechtfertigen daher kein Absehen von der Verhängung eines Regelfahrverbotes, sondern grundsätzlich nur Härten ganz außergewöhnlicher Art, wie z.B. ein drohender Verlust des Arbeitsplatzes oder der Verlust einer sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage (vgl. Senatsbeschluss vom 06. Februar 2006 in 2 Ss OWi 31/06 m.w.Nachw.; vgl. auch BayObLG NZV 2002, 143; Frankfurt a.M. NStZ-RR 2000, 312; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 25 StVG Rz. 25 m.w.N.).

Die Entscheidung über das Absehen von dem Regelfahrverbot ist außerdem eingehend zu begründen und mit ausreichenden Tatsachen zu belegen (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.). Ob gravierende berufliche Nachteile ausnahmsweise ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen können, bedarf der positiven Feststellung durch den Tatrichter, der die entsprechenden Tatsachen in den Urteilsgründen darlegen muss. Er hat Angaben des Betroffenen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und im Urteil darzulegen, aus welchen Gründen er diese für glaubhaft erachtet (vgl. ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. Beschluss vom 20. Mai 2005 in 2 Ss OWi 108/05). ; Hentschel, a.a.O., § 25 StVG, Rz. 26).

Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.

In den Urteilsgründen wird lediglich mitgeteilt, der Betroffene sei als Kommunikationselektriker tätig, er könne seinen Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erreichen und die Inanspruchnahme eines Taxis oder ein Umzug seien wegen der damit verbundenen Kosten nicht möglich.

Diese Ausführungen, die allein auf den Angaben des Betroffenen beruhen, sind unzureichend. So hätte dargelegt werden müssen, wann der Betroffene an seinem Arbeitsplatz erscheinen muss und wie sich die Verkehrsverbindungen von Q nach L2 mit öffentlichen Verkehrsmitteln im Einzelnen darstellen und ob nicht doch die Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel – wenn auch unter Inkaufnahme erheblicher Zeitverluste – möglich ist. Des Weiteren fehlen Angaben dazu, wie häufig der Betroffene auswärtige Termine bei Kunden wahrzunehmen hat. Dass die – zumindest gelegentliche Inanspruchnahme – eines Taxis unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse des Betroffenen hier ausscheidet, ist nicht überprüfbar, da das Urteil jegliche Ausführungen zu den Einkommensverhältnissen des Betroffenen vermissen lässt. In diesem Zusammenhang ist aber auch zu berücksichtigen, dass, worauf die Staatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hat, bei der Anordnung eines Regelfahrverbots die Erhöhung der Geldbuße entfällt, mithin der Betroffene aufgrund dieser „wirtschaftlichen Ersparnis“ auch eher in der Lage ist, sich Fahrten mit dem Taxi zu leisten.

Letztlich gilt aber der Grundsatz, dass berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge des angeordneten Fahrverbotes, wie z.B. die Inanspruchnahme von Urlaub sowie die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxen als selbstverschuldet hinzunehmen sind und nicht ausreichen, um von der Verhängung eines Regelfahrverbots abzusehen. Notfalls muss ein Kredit aufgenommen werden (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2000, 312; OLG Karlsruhe NZV 2004, 653; BayObLG NZV 2002, 143; KG Beschluss vom 10.12.2003 – 2 Ss 210/033 Ws (B) 500/03, www.strafverteidiger-berlin.de). Derartige Belastungen durch einen Kredit, der in kleineren für den Betroffenen tragbaren Raten abgetragen werden kann, und die sich im Hinblick auf die verhältnismäßig kurze Dauer eines Fahrverbots von nur einem Monat in überschaubaren Grenzen bewegen, sind hinzunehmen. Maßnahmen der vorgenannten Art unter Einschluss einer Kreditaufnahme sind, wenn der Betroffene über ein geregeltes Einkommen verfügt, auch regelmäßig als zumutbar anzusehen.

Der Grundsatz, dass berufliche oder wirtschaftliche Schwierigkeiten als selbstverschuldet hinzunehmen sind, gilt grundsätzlich auch für beruflich auf das Fahrverbot angewiesene Arbeitnehmer, da anderenfalls die Nebenfolge bei bestimmten Berufsgruppen praktisch ausscheiden würde (vgl. Senatsbeschluss vom 06. Januar 2000 in 2 SsOWi 1274/99).

Den Urteilsausführungen ist ferner nicht zu entnehmen, inwieweit der Betroffene in der Lage gewesen wäre, das Fahrverbot zumindest teilweise in der Zeit seines Jahresurlaubs abzuwickeln und dadurch die beruflichen Auswirkungen eines einmonatigen Fahrverbots zumindest abzumildern. Es wird insoweit lediglich mitgeteilt, „eine Inanspruchnahme seines gesamten Resturlaubs ist auch nicht möglich“. Es hätte aufgeklärt werden müssen, für welchen zusammenhängenden Zeitraum der Arbeitgeber bereit wäre, Urlaub zu gewähren und ob der Betroffene in der den Urlaub überschreitenden Restzeit des Fahrverbots durch einen anderen Bediensteten des Betriebes vertreten werden könnte. Allein die Möglichkeit einer Kündigung ohne nähere Feststellungen zu deren Wahrscheinlichkeit und Durchsetzbarkeit vermag ein Absehen von einem regelmäßig zu verhängenden Fahrverbot nicht zu begründen (OLG Hamm, Beschluss vom 17. November 2005 in 3 Ss OWi 717/05 – m.w.N.). Konkrete Angaben, inwieweit tatsächlich eine existenzielle Gefährdung des Betroffenen durch die Verhängung eines Fahrverbotes gegeben ist, enthält das Urteil überdies nicht. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass dem Betroffenen, gegen den in den letzten zwei Jahren vor der Ordnungswidrigkeit kein Fahrverbot verhängt worden ist und auch bis zur Bußgeldentscheidung kein Fahrverbot verhängt wurde, nach dem Regelfall des § 25 Abs. 2a StVG eine Frist von vier Monaten einzuräumen ist, binnen derer das Fahrverbot wirksam wird.

Da nach alledem das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes auf einer nicht tragfähigen Begründung beruht, kann das angefochtene Urteil – angesichts der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot – im gesamten Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben. Eine eigene Sachentscheidung des Senats gemäß § 79 Abs. 6 OWiG kommt nicht in Betracht, da noch weitere tatsächliche Feststellungen getroffen werden müssen.

Die Sache war daher in diesem Umfang an das Amtsgericht Lüdenscheid zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, zurückzuverweisen.