Zum Inhalt der Entscheidung: Es stellt keinen Rotlichtverstoß dar, wenn ein Verkehrsteilnehmer vor einer roten Ampel auf ein im Eckbereich der kreuzenden Straßen liegendes Privatgrundstück (hier: Tankstelle) abbiegt und dann von dort in die kreuzende Straße einfährt.
Oberlandesgericht Hamm
Beschluss vom 02.07.2013
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Der Betroffene wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.
Aus den Gründen:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot (unter Gewährung der sog. „Viermonatsfrist“) verhängt (§§ 37 Abs. 2, 49 StVO, 24, 25 StVG). Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil befuhr der Betroffene am 20.09.2012 in (…) den (…) und wollte links in die (…) abbiegen. Da an der Kreuzung die Lichtzeichenanlage für den Betroffenen Rotlicht zeigte, bog der Betroffene vor der Kreuzung nach links auf das Gelände einer im Eckbereich der beiden Straßen liegenden Tankstelle ab. Er überquerte das Tankstellengelände und verließ dieses an der Ausfahrt zur (…), indem er in diese nach links einbog.
Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts. Er meint, sein Verhalten stelle keinen qualifizierten Rotlichtverstoß dar.
Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen, weil die Feststellungen eine Verurteilung wegen eines Rotlichtverstoßes nicht trügen. Es sei nicht festgestellt, ob der Betroffene vom Tankstellengelände noch im von der Lichtzeichenanlage geschützten Kreuzungsraum in die (…) eingefahren sei und ob dies bei fortdauerndem Rotlicht geschah.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Der Betroffene war freizusprechen (§§ 79 Abs. 3 OWiG, 354 Abs. 1 StPO).
Das hier festgestellte Verhalten des Betroffenen erfüllt weder den Bußgeldtatbestand nach §§ 49, 37 Abs. 2 StVO noch nach §§ 49, 2 Abs. 1 StVO. Auch sonst ist keine Verletzung eines Bußgeldtatbestandes ersichtlich. Ob sich der Betroffene zivilrechtlich (im Verhältnis zum Tankstellenbetreiber) rechtmäßig verhalten hat, ist nicht Gegenstand des Verfahrens.
1.
Im Grundsatz noch zutreffend ist der Ansatz des Amtsgerichts, dass das Umfahren einer Lichtzeichenanlage einen Rotlichtverstoß darstellen kann. Das Rotlicht der Verkehrssignalanlage ordnet an: „Halt vor der Kreuzung oder Einmündung“ (vgl. § 37 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StVO). Es schützt den Querverkehr oder den einmündenden Verkehr, der für seine Fahrtrichtung durch Grünlicht der Signalanlage freie Fahrt hat und sich darauf verlassen darf, dass aus der gesperrten Fahrtrichtung keine Fahrzeuge in den geschützten Kreuzungs- oder Einmündungsbereich hineinfahren. Dadurch sollen solche Gefahrensituationen ausgeschlossen werden, die erfahrungsgemäß zu schweren Verkehrsunfällen führen können. Zu dem durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereich gehört der gesamte Kreuzungs- oder Einmündungsbereich, wobei außer der Fahrbahn auch die parallel verlaufenden Randstreifen, Parkstreifen, Radwege oder Fußwege diesem Bereich zuzuordnen sind (OLG Düsseldorf ZfSch 1984, 62, 63; OLG Düsseldorf NZV 1993, 243; OLG Hamm, Beschl. v. 25.01.2006 – 1 SsOWi 223/05 –juris; OLG Hamm, Beschl. v. 17.06.2005 – 1 Ss OWi 223/05 – juris). Auch der Bereich in einer Entfernung von 10 -15 m hinter der Lichtzeichenanlage gehört noch zum geschützten Bereich (OLG Hamm NStZ-RR 2002, 250). Vor diesem Hintergrund ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass derjenige, der die Fahrbahn vor einer für ihn Rotlicht zeigenden Ampelanlage verlässt und diese über den Gehweg, Randstreifen, Parkstreifen, Radweg oder eine Busspur umfährt, um hinter der Ampelanlage in dem durch sie geschützten Bereich wieder auf die Fahrbahn aufzufahren, sich eines Rotlichtverstoßes schuldig macht (OLG Düsseldorf VRS 68, 377; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 55; OLG Hamm NStZ-RR 2002, 250; OLG Karlsruhe NZV 1989, 158; OLG Köln VRS 61, 291). Gleiches gilt, wenn jemand auf einer Fahrbahn mit mehreren durch Leitlinien bzw. Fahrstreifenbegrenzungen und Richtungspfeile markierten Fahrstreifen mit jeweils eigener Lichtzeichenregelung auf der durch Grünlicht freigegebenen Geradeausspur in eine Kreuzung einfährt und nach Überfahren der Haltlinie auf den durch Rotlicht gesperrten Fahrstreifen für Linksabbieger wechselt (BayObLG NZV 2000, 422).
Das Rotlicht verbietet dagegen nicht, vor der Ampelanlage abzubiegen und einen nicht durch die Lichtzeichenanlage geschützten Bereich zu befahren, etwa auf einen Parkplatz oder – wie hier – ein Tankstellengelände einzufahren. Ebenso wenig untersagt es, von einem nicht durch die Signalanlage geschützten Bereich auf den hinter dieser, durch sie also geschützten Verkehrsraum zu fahren; denn das Rotlicht wendet sich selbstverständlich nur an denjenigen Verkehrsteilnehmer, der es – in seiner Fahrtrichtung gesehen – vor sich findet (BayObLG NZV 1994, 80; BayObLG, Beschl. v. 07.07.1981- 2 Ob OWi 185/81 zit. nach Janiszewski NStZ 1982, 107, 109; OLG Hamm VRS 55, 292, 293; OLG Köln DAR185, 229, 230; OLG Oldenburg NJW 1985, 1567; Janker in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 22. Aufl., StVO § 37 Rdn. 3; vgl. auch Lehmpuhl DAR 2002, 433). Mit einer solchen Vorgehensweise nutzt der Verkehrsteilnehmer lediglich eine Lücke, die es ihm ermöglicht, sich außerhalb der Reichweite des Haltegebots fortzubewegen. Das auch ansonsten zulässige und nicht bußgeldbewehrte Verhalten des Auffahrens und Verlassens eines Privatgrundstücks wird nicht dadurch zur Ordnungswidrigkeit, dass es durch die Vermeidung des Anhaltens vor einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage motiviert ist. Die oben geschilderte Gefährdungslage ist bei einer solchen Verhaltensweise nicht gegeben. Vielmehr ist lediglich die Gefährdungslage des (grundsätzlich aber erlaubten) Ein- und Ausfahrens auf ein bzw. von einem Privatgrundstück gegeben, die aber durch die Wechsellichtzeichenanlage nicht vermindert werden soll (OLG Hamm VRS 55, 292, 293). Diese Gefährdungslagen werden durch andere Verkehrsvorschriften hinreichend geregelt (vgl. BGH, Beschl. v. 27.06.1985 – 4 StR 766/84 – juris; OLG Düsseldorf ZfSch 1984, 62, 63).
Soweit in der Entscheidungen des BayObLG NZV 1994, 80 und des OLG Düsseldorf NZV 1993, 243 (vgl. auch König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 37 Rdn. 9) entschieden worden ist, dass aber das gezielte Umfahren einer Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage wegen der Zielgerichtetheit gleichwohl einen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 StVO darstellt, kann dem aus den o.g. Gründen nicht gefolgt werden. Einer Vorlage entsprechend § 121 Abs. 2 GVG (vgl. Göhler-Seitz, OWiG, 15. Aufl., § 79 Rdn. 38) bedarf es nicht, da diese Ausführungen nicht tragend waren für die Entscheidungen dieser Gerichte und das BayOblG zudem aufgelöst ist.
2.
Auch ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 StVO kann in der Verhaltensweise des Betroffenen nicht gesehen werden. Ein Kraftfahrer, der vor einer Straßenkreuzung die Fahrbahn verlässt, um über ein neben der Straße gelegenes Tankstellengelände die Querstraße schneller zu erreichen, verstößt nicht deshalb gegen das Gebot der Fahrbahnbenutzung in § 2 Abs. 1 StVO, weil er dazu den Gehweg überqueren muss (BGH a.a.O.; a.A. König in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., StVO § 2 Rdn. 73). Weitere Verstöße gegen ordnungswidrigkeitenrechtliche Vorschriften sind nicht erkennbar.
III.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 1; 79 Abs. 3 OWiG, 467 StPO.