Leitsatz des Gerichts:
- Möchte der Tatrichter vom Regelfahrverbot absehen, so muss sich aus den Urteilsgründen ergeben, dass er sich der gesetzlichen Indizwirkung der BKatV bewusst war.
- Zur Bewertung einer Einlassung, der Betroffene habe sein Fahrzeug aus technischen Gründen beschleunigen müssen, um dessen Liegenbleiben zu verhindern
- Aufgrund der Regelung des § 3 Abs. 1 BKatV ist es grundsätzlich fehlerhaft, die Herabsetzung der Regelgeldbuße damit zu begründen, der Betroffene habe keine Voreintragung im Fahrerlaubnisregister.
- Dass der Betroffene seit 26 Jahren Inhaber einer Fahrerlaubnis ist, gibt nicht ohne Weiteres Anlass, die Regelgeldbuße herabzusetzen.
- Die tatrichterliche Bewertung, durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung (hier: innerorts um 42 km/h) werde die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt, ist nicht nachvollziehbar.
- Möchte der Tatrichter vom Regelfahrverbot absehen, weil dieses den Betroffenen aus familiären und beruflichen Gründen besonders hart treffe, so ist diese Bewertung mit Tatsachen zu belegen. Gehen diese auf die Einlassung des Betroffenen zurück, bedarf es einer kritischen Würdigung und gegebenenfalls Überprüfung.
- Andeutungen, die Prozessökonomie hätte Anlass gegeben, die Regelgeldbuße herabzusetzen (hier von 800 auf 55 Euro) und vom Fahrverbot abzusehen, stellen keine tragfähige Grundlage für eine entsprechende Rechtsfolgenentscheidung dar.
Kammergericht
Beschluss vom 11.09.2024
3 ORbs 165/24 – 162 SsBs 25/24
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Februar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe:
Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 5. Oktober 2023 gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 42 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 800 Euro verhängt und auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Zugleich ist bestimmt worden, dass das Fahrverbot nach § 25 Abs. 2a StVG wirksam werden soll.
Auf seinen in zulässiger Weise auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen zu einer Geldbuße von 55 Euro verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen. Zur Begründung heißt es, der Betroffene, ein verheirateter Rechtsanwalt mit zwei Kindern, habe die Tat eingeräumt, sich reumütig gezeigt und „Unrechtsbewusstsein“ gehabt. Berücksichtigt worden sei, dass ein Nachweis des Vorwurfs ohne das Geständnis „in der Hauptverhandlung“ nicht zu führen gewesen sei, weil die „geladene Zeugin POM’in Barthe eine Fahrzeugführereigenschaft des Betroffenen nicht bestätigen konnte“. Daher sei das Geständnis „besonders werthaltig“.
Weiter heißt es in den Gründen zum Tatgeschehen:
„Hintergrund der überhöhten Geschwindigkeit war ein Defekt des Autos, welches zu einem Ausschalten des Motors inmitten des Tunnels auf der Bundesstraße führte. Aufgrund der Bedienungskenntnisse des Betroffenen im Umgang mit einem Oldtimerfahrzeug hat dieser das Fahrzeug beschleunigt, um ein Liegenbleiben in Tunneln zu verhindern. Ziel der kurzfristigen Beschleunigung über ca. 300 Meter war, ein Neustart des Motors zu erzeugen. Eigenart eines Tunnels ist dessen eingeschränkte Zugänglichkeit und die verminderte Einsichtsmöglichkeit für andere Verkehrsteilnehmer. Aufgrund dieser Gegebenheiten bezweckte der Betroffene, ein Liegenbleiben des Fahrzeugs zu verhindern, um so keine besonders gefährliche Gefahrenquelle im öffentlichen Straßenverkehr zu erzeugen. Folglich kam es deshalb zu der gemessenen Geschwindigkeitsüberschreitung. Ein Abbremsen erfolgte sodann unverzüglich. Dieses Vorgehen ist bei Motoren Fahrzeuge mit dem Baujahr 1965 üblich. Der Unrechtsgehalt hält sich daher auch im unteren Bereich der Verwerflichkeit. Zur Überprüfung der Zweckmäßigkeit dieses Vorgehens wäre die Einholung eines Sachverständigengutachtens notwendig, dessen Kosten in keinem Verhältnis zu der Geldbuße stünden. Der Betroffene hat keinerlei Voreintragungen im Fahreignungsregister. Dies ist in besonderem Maße zu würdigen, da der Betroffene seine Fahrerlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland bereits seit 1998 hat. Die Verkehrssicherheit wurde durch die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht beeinträchtigt. Vielmehr ergibt sich aus dem Messprotokoll, dass zu dem Zeitpunkt eine geringe Verkehrsdichte vorlag. Zudem ergaben sich Unstimmigkeiten im Messprotokoll, durch handschriftliche Korrekturen der erfassenden Polizeibeamten, die einen weiteren Hauptverhandlungstermin mit weiteren Zeugen und einer ggf. neuen Auswertung notwendig machten. Schließlich ist der Betroffene, sowohl aus familiären als auch aus beruflichen Gründen, in besonderem Maße auf eine Fahrerlaubnis angewiesen.“
Die Amtsanwaltschaft Berlin beanstandet das Urteil mit der Rechtsbeschwerde und erhebt die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Beschwerdeführerin bemängelt zu Recht, dass die getroffenen Feststellungen es bei der hier abgeurteilten beträchtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung nicht rechtfertigen, vom vorgesehenen Fahrverbot abzusehen.
1. Zwar folgt aus § 4 Abs. 1 BKatV in der Tat nicht, dass ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhängen wäre. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen (vgl. BVerfG NJW 1996, 1809). Denn die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen besondere Umstände ergibt, nach denen es der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots ausnahmsweise nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Seine innerhalb des ihm eingeräumten Bewertungsspielraums nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen zu treffenden Wertungen können vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt oder die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat (vgl. zuletzt OLG Bamberg VRR 2017, 18 [Volltext bei juris]). Dass ein Kraftfahrer auf seine Fahrerlaubnis beruflich angewiesen ist, rechtfertigt ein Absehen von der Auferlegung eines Fahrverbotes allerdings grundsätzlich nicht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschlüsse vom 22. September 2004 – 3 Ws (B) 418/04 – und 15. April 2005 – 3 Ws (B) 132/05 -). Ausnahmen davon können sich allenfalls ergeben, wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes oder seiner sonstigen wirtschaftlichen Existenz droht und dies nicht durch zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 17. April 2002 – 3 Ws (B) 118/02 -; OLG Düsseldorf VRS 96, 228). Dabei ist nach der Einführung des § 25 Abs. 2a StVG mit der Möglichkeit, den Beginn der Wirksamkeit des Verbotes innerhalb von vier Monaten selbst zu bestimmen, ein noch strengerer Maßstab anzulegen (vgl. OLG Frankfurt DAR 2002, 82).
Die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und deshalb die Verhängung eines Fahrverbots nicht erfordert, muss durch Tatsachen gestützt sein (vgl. BGHSt 38, 231), die sich nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf (vgl. OLG Hamm DAR 2012, 477; Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen 4. Aufl., § 6 Rn. 203 m. w. N.). Zwar ist es dem Tatrichter nicht schlechthin verwehrt, „fahrverbotsfeindliche“ Behauptungen zu glauben. Entlastende Angaben des Betroffenen, der sich auf eine persönliche Ausnahmesituation beruft und regelmäßig ein großes Interesse daran haben wird, einem Fahrverbot zu entgehen, dürfen jedoch nicht ohne weitere Prüfung hingenommen werden (vgl. OLG Hamm BA 2004, 179; DAR 2007, 97; OLG Naumburg DAR 2003, 573; Krumm, a.a.O.). Der Tatrichter ist vielmehr gehalten, die Einlassung eines Betroffenen kritisch zu prüfen (vgl. Senat Blutalkohol 54, 385 [Bäcker]; DAR 2019, 391 [Taxifahrer]; OLG Zweibrücken VerkMitt 2020, Nr. 43 [„Gruppenführer im Schichtbetrieb“]; OLG Hamm VRR 2009, 310 [Volltext bei juris]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. März 2008 – IV-5 Ss (Owi) 44/07 – [juris] [„Selbstständiger Gewerbetreibender“]; OLG Hamm DAR 2007, 97 [selbstständiger Taxifahrer]). Gegebenenfalls sind Beweise zu erheben (vgl. OLG Hamm DAR 2007, 97). Der Tatrichter muss dazu im Urteil so umfassende Feststellungen treffen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht eine abschließende Prüfung möglich ist. Die negativen wirtschaftlichen und beruflichen Folgen eines Fahrverbots sowie die verschiedenen Möglichkeiten, die Auswirkungen abzumildern, sind im Einzelnen konkret darzulegen (vgl. OLG Hamm a.a.O.).
2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Urteilsgründe lassen bereits besorgen, dass sich der Tatrichter gar nicht bewusst war, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung um 42 km/h durch § 4 Abs. 1 BKatV i.V.m. Nr. 11.3.7 BKat mit einem Regelfahrverbot bewehrt ist. Denn die Ausführungen zu den Rechtsfolgen erscheinen ihrem Wortlaut nach lediglich als Begründung der überaus geringen Geldbuße; mit dem an sich indizierten Regelfahrverbot befassen sie sich nicht. Darüber hinaus ist aber auch keiner der vom Amtsgericht genannten Gesichtspunkte für sich oder im Zusammenhang mit anderen inhaltlich geeignet, die Regelwirkung des Bußgeldkatalogs zu entkräften.
a) Das Amtsgericht macht in der Sache geltend, die vom Betroffenen begangene Geschwindigkeitsüberschreitung zeichne sich durch geringes Handlungsunrecht aus. Dabei legt es einen Sachverhalt zugrunde, der weder tatsächlich noch rechtlich geeignet ist, diese Bewertung zu tragen. Es soll nämlich zu einem „Ausschalten des Motors“ (UA S. 3) gekommen sein, weshalb der Betroffene das Fahrzeug „beschleunigt“ habe, „um ein Liegenbleiben im Tunnel (zu) verhindern“ (UA S. 3). Das ist unverständlich und bereits im Ansatz ungeeignet, die gravierende Geschwindigkeitsüberschreitung in ihrer inneren Bedeutung zu relativieren. Selbst wenn es nachvollziehbar wäre, dass der Betroffene sein Fahrzeug auf 92 km/h beschleunigen musste, um ein „Liegenbleiben“ zu verhindern, stünde in Frage, ob dies das Handlungsunrecht mindern könnte. Denn es versteht sich von selbst, dass der Betroffene mit einem Fahrzeug, dessen ihm bekannte (UA S. 3) Schadhaftigkeit ihn zur erheblichen Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit zwingt, nicht am Verkehr teilnehmen darf. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass das Tatgericht ein solches „Vorgehen“ bei Motoren von „Fahrzeugen mit dem Baujahr 1965“, normativ und unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit ausgesprochen zweifelhaft, für „üblich“ hält (UA S. 3).
Die Beweiswürdigung ist auch insoweit unklar, als offenbleibt, ob das Tatgericht dem Betroffenen die – jedenfalls in den niedergelegten Urteilsgründen unlogische und als solche fernliegende – Einlassung überhaupt geglaubt hat. Die Schilderung des Tatgeschehens legt dies zunächst nahe (UA S. 3: „Hintergrund der überhöhten Geschwindigkeit war, dass …“). Allerdings führt das Urteil auch aus, dass zur Überprüfung der Einlassung ein Sachverständigengutachten erforderlich gewesen wäre (UA S. 3). Damit bleibt unklar, ob das Tatgericht von dem geschilderten Sachverhalt überzeugt war oder ob es ihn im Grunde für überprüfungsbedürftig gehalten hat und nur deshalb als wahr unterstellt hat, weil es aus Kostengründen (UA S. 3) kein Gutachten einholen wollte.
b) Unzutreffend ist es, die Abweichung vom Bußgeldkatalog damit zu begründen, dass der Betroffene keine Voreintragungen im Fahrerlaubnisregister habe (UA S. 4). Denn dieser Umstand liegt den Regelrechtsfolgen des BKat nach § 3 Abs. 1 BKatV bereits zugrunde.
c) Auch der Umstand, dass der Betroffene „seine Fahrerlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland bereits seit 1998 hat“ (UA S. 3), lässt die vorsätzlich begangene Ordnungswidrigkeit nicht in einem milderen Licht erscheinen. Auch hierbei handelt es sich nicht um einen erkennbar vom Regelfall abweichenden Umstand.
d) Gleichfalls fehlerhaft ist die Bewertung, die Tat lasse ein gegenüber dem Regelfall vermindertes Erfolgsunrecht erkennen. Dass durch die rechtskräftig feststehende Geschwindigkeitsüberschreitung um 42 km/h die Verkehrssicherheit „nicht beeinträchtigt“ wurde (UA S. 3), ist eine nicht nachvollziehbare Bewertung. Zutreffend ist, dass die Tat offenbar nicht zu einer konkreten Gefährdung geführt hat. Von einer solchen geht der Bußgeldkatalog mit seinem Regelfahrverbot aber auch nicht aus, so dass ihr Fehlen nicht als Argument dafür angeführt werden kann, dass das indizierte Fahrverbot nicht verhängt wird.
e) Die Feststellungen ermöglichen es dem Senat auch nicht, die tatrichterliche Bewertung nachzuvollziehen, das Fahrverbot treffe den Betroffenen außergewöhnlich hart. Dass der Betroffene „sowohl aus familiären als auch aus beruflichen Gründen, in besonderem Maße auf eine Fahrerlaubnis angewiesen“ sei (UA S. 4), ist eine Behauptung, die durch keine Tatsachen untermauert wird. Sie verfehlt die oben (unter 1.) genannten Anforderungen an die Darstellung und die kritische Würdigung einer fahrverbotskritischen Einlassung in jeder Hinsicht. Eine rechtsbeschwerderechtliche Überprüfung der tatrichterlichen Bewertung ist dem Senat nicht möglich.
f) Schließlich stellen auch die verschiedenen Andeutungen, die Prozessökonomie habe das Amtsgericht zu der außergewöhnlich milden und nachsichtigen Rechtsfolge veranlasst, keine legitime Grundlage dafür da, die innerorts vorsätzlich begangene Geschwindigkeitsüberschreitung um 42 km/h nur mit einer Geldbuße von 55 Euro zu ahnden und von der Verhängung des gesetzlich indizierten Fahrverbots abzusehen.
3. Die Entscheidung, vom Fahrverbot abzusehen, hat somit keinen Bestand. Wegen der Wechselwirkung zwischen der Frage der Anordnung des Fahrverbots und der Höhe der Geldbuße ist das Urteil, das richtigerweise ohnehin nur einen Rechtsfolgenausspruch enthält, insgesamt aufzuheben, und die Sache ist an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen. Der Senat sieht sich wegen der lückenhaften und widersprüchlichen Feststellungen nicht in der Lage, nach § 79 Abs. 6 Satz 1 Alt. 1 OWiG in der Sache selbst und auf das Fahrverbot „durchzuentscheiden“.