Ein Fahrverbot kann bei schwerer Krankheit oder Behinderung unzumutbar sein. Beispiele aus der Rechtsprechung:
1. Dringender medizinischer Behandlungsbedarf
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Herz-OP und notwendige ambulante Nachbehandlung
➤ Fahrverbot aufgehoben
AG Meldorf, ZfS 2000, 366 -
Regelmäßige Arztbesuche ohne akuten medizinischen Bedarf
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Hamm, NStZ-RR 1999, 282
2. Schwerbehinderung und Mobilität
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100 % schwerbehinderter Rentner ohne Fahrdienstmöglichkeit
➤ Fahrverbot aufgehoben
OLG Brandenburg, DAR 2004, 658 -
Beinamputation / Querschnittslähmung (Rollstuhlfahrer)
➤ Fahrverbot aufgehoben
OLG Karlsruhe, NZV 1991, 159; AG Hof, NZV 1998, 388 -
Gehbehinderung 70 %
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Hamm, NZV 1999, 316
3. Pflege und familiäre Verpflichtungen
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Pflegebedürftige Angehörige ohne alternative Versorgung
➤ Fahrverbot aufgehoben
AG Mannheim, ZfS 2004, 236 -
Fehlende Darlegung zur konkreten Versorgungssituation
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Hamm, NZV 2006, 664 -
Vater von vier Kindern mit krankheitsbedingtem Versorgungsbedarf (Mukoviszidose)
➤ Fahrverbot aufgehoben
OLG Hamm, NZV 1997, 281
4. Alter, Schwangerschaft und familiäre Unterstützung
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Schwangere Ehefrau (7. Monat), die auf Fahrdienste angewiesen ist
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Hamm, VRS 105, 447 / NZV 2004, 99; OLG Hamm, Beschl. v. 08.07.2003 -
Hohes Alter des Betroffenen als Argument für Fahrbedürfnis
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Hamm, Beschl. v. 09.01.2002 -
Rentner mit 50 % Schwerbehinderung und langjähriger Fahrpraxis
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Hamm, NZV 2007, 152
5. Kritische Beweiswürdigung bei gesundheitlichen Ausnahmetatbeständen
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Reisekrankheit („Motion Sickness“) – keine Nutzung von ÖPNV möglich
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Bamberg, Beschl. v. 28.12.2015 (s.u.)
🔎 Wichtig: Selbst wenn ein ärztliches Attest vorliegt, muss dieses nachvollziehbar sein – insbesondere hinsichtlich der diagnostischen Grundlage und medizinischen Standards. Reine Betroffeneneinlassungen reichen nicht aus. Das Gericht darf sich nicht auf einseitige, unkritische Würdigungen stützen. -
Erhebliche wirtschaftliche Einbußen ohne konkrete Existenzgefährdung
➤ Fahrverbot nicht aufgehoben
OLG Bamberg, a. a. O.
💡 Nach dem rechtsstaatlichen Übermaßverbot kommt ein Absehen nur dann in Betracht, wenn existenzbedrohende Umstände schlüssig dargelegt werden – bloße Gewinnminderungen oder Umsatzeinbußen genügen nicht.
Die Rechtsprechung zeigt deutlich: Das Fahrverbot bleibt die Regel, Ausnahmen bestätigen diese nur in sehr eng gesteckten Grenzen. Damit ein Fahrverbot ausnahmsweise nicht verhängt wird, müssen folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:
✅ Gravierende gesundheitliche oder familiäre Belastungssituation
✅ Keine zumutbare Alternative (z. B. ÖPNV, Fahrdienst, Angehörige)
✅ Konkrete, detaillierte und nachprüfbare Darlegung im Verfahren
- OLG Bamberg – Beschluss v. 17.01.17: Zu den Begründungsanforderungen bei Absehen vom Fahrverbot wegen gesundheitlicher Einschränkungen.
- OLG Bamberg – Beschluss vom 28.12.15: 1. Macht der Betroffene mit Blick auf ein bußgeldrechtliches Fahrverbot geltend, aus gesundheitlichen Gründen (hier: sog. Reisekrankheit) weder Mitfahrmöglichkeiten als Bei- oder Mitfahrer noch öffentliche Verkehrsmittel nutzen zu können, sondern auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs als dessen Fahrer angewiesen zu sein, darf sich das Tatgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung auch dann nicht mit einer einseitig unkritischen Würdigung der Betroffeneneinlassung begnügen, wenn die geltend gemachte Krankheit zwar ärztlich bescheinigt ist, aus der Bescheinigung aber nicht hervorgeht, aufgrund welcher objektiv-wissenschaftlichen Standards die ihr zugrunde gelegten Befunde festgestellt worden sind. Diese Umstände sind im Urteil derart darzulegen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht eine Nachprüfung ermöglicht ist.2. Ein Absehen von einem wegen eines groben Pflichtenverstoßes an sich verwirkten Regelfahrverbot unter Berufung auf das rechtsstaatliche Übermaßverbot ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn die besondere Härte lediglich mit erwarteten erheblichen Ertrags- oder Gewinneinbußen begründet wird, wenn nicht zugleich konkret aufgezeigt ist, dass diese mit einer drohenden Existenzgefährdung einhergehen. Denn nur dann ist das Tatgericht gehalten, entsprechenden Behauptungen des Betroffenen im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht weiter nachzugehen.
- OLG Hamm – Beschluss vom 08.07.03: Dass der Betroffene seine im 7. Monat schwangere Ehefrau von der Arbeitsstelle abholen und zum Arzt bringen muss, reicht für ein Absehen vom Fahrverbot nicht aus.
- OLG Hamm – Beschluss vom 09.01.02: Der Umstand, dass der Betroffene aufgrund seines Alters auf sein Fahrzeug angewiesen sei, führt nicht zur Annahme einer besonderen Härte, die einen Ausnahmefall (Absehen vom Fahrverbot) rechtfertigen könnte.