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OVG Lüneburg – Beschluss vom 11.12.07

Zum Inhalt der Entscheidung: Zur Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Fahrerlaubnisbehörde vor Abschluss eines Strafverfahrens.

 

Oberverwaltungsgericht Lüneburg

Beschluss vom 11.12.2007

12 ME 360/07

 

Aus den Gründen:

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A und BE.

Der Antragsteller wurde am …. D. 2007 um 21.45 Uhr in E. als Fahrer eines Pkw polizeilich kontrolliert. Wegen des Verdachts auf Betäubungsmittelkonsum wurde um 22.10 Uhr eine Blutentnahme durchgeführt, die nach dem Untersuchungsbericht der F. GmbH, G. H. und Kollegen, vom 13. April 2007 einen positiven Cannabis-Befund erbrachte, wobei die entnommene Blutprobe Werte von 47,5 ng/ml THC und >200 ng/ml (ca. 360 ng/ml) THC-COOH aufwies. Die Polizeiinspektion E. erstattete unter dem 8. April 2007 Anzeige wegen einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 24 a StVG und unter dem 20. April 2007 Strafanzeige wegen eines Verstoßes nach § 29 BtMG gegen den Antragsteller. Die Ordnungswidrigkeit wurde durch Bußgeldbescheid vom 5. Juni 2007 geahndet. Das Strafverfahren wegen der Betäubungsmittelstraftat wurde am 28. Juni 2007 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Mit Bescheid vom 8. Mai 2007 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis und führte zur Begründung an, der hohe THC-COOH Wert deute auf einen regelmäßigen Cannabiskonsum hin und der Antragsteller sei mithin zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet.

Am 8. Juni 2007 hat der Antragsteller gegen die Fahrerlaubnisentziehungsverfügung Klage erhoben und um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Den Eilantrag hat das Verwaltungsgericht mit dem im Tenor bezeichneten Beschluss abgelehnt, weil der angefochtene Bescheid auf der Grundlage des § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV zu Recht ergangen sei, denn bei einer spontan durch die Polizei angeordneten Blutuntersuchung könne bei einem Wert des Abbauproduktes THC-COOH von 150 ng/ml und mehr auf einen regelmäßigen Cannabiskonsum geschlossen werden. Die Entziehung sei auch nicht deswegen rechtswidrig, weil der Antragsgegner den Ausgang des wegen des Vorfalls vom …. D. 2007 eingeleiteten Strafverfahrens nicht abgewartet habe. Zwar dürfe gemäß § 3 Abs. 3 StVG, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig sei, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht komme, die Fahrerlaubnisbehörde den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens sei, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen. Im vorliegenden Fall sei aber eine Entziehung der Fahrerlaubnis im Strafverfahren bereits bei dessen Einleitung nicht in Betracht gekommen. Denn den bei dem Vorfall getroffenen Feststellungen der Polizei sei ohne weiteres zu entnehmen gewesen, dass der Antragsteller den Straftatbestand der Trunkenheit im Verkehr nicht erfüllt habe. Durch den Cannabiskonsum bedingte Ausfallerscheinungen seien nicht – jedenfalls nicht zweifelsfrei – festgestellt worden. Auch sonst seien keine Umstände ersichtlich gewesen, die den Antragsteller gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet hätten erscheinen lassen.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen die Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses nicht.

Der Antragsteller macht geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei im Zeitpunkt der Fahrerlaubnisentziehung der Ausgang des Strafverfahrens offen und auch in jenem Verfahren eine Entziehung der Fahrerlaubnis zumindest möglich gewesen. Dafür hätte es indes weiterer Ermittlungen und Aufklärungsmaßnahmen im Rahmen des Strafverfahrens bedurft. Vor dessen Abschluss habe die Straßenverkehrsbehörde wegen der Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG nicht handeln dürfen. Diese Erwägungen sind nicht geeignet, der Beschwerde zum Erfolg zu verhelfen.

Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG darf die Fahrerlaubnisbehörde in einem Fahrerlaubnisentziehungsverfahren den Sachverhalt, der Gegenstand eines gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gerichteten Strafverfahrens ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB in Betracht kommt, nicht berücksichtigen, solange das Strafverfahren anhängig ist. Mit dieser die Bindung der Fahrerlaubnisbehörde an die in dem Strafverfahren ergehende gerichtliche Entscheidung betreffenden Regelung sollen bei Vorrangigkeit des Strafverfahrens widersprüchliche Entscheidungen von Fahrerlaubnisbehörden und Gerichten vermieden werden. Der Fahrerlaubnisbehörde fehlt demnach in den in § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG genannten Fällen bis zur Einstellung des Strafverfahrens oder bis zur Rechtskraft der ergehenden Entscheidung die Befugnis, selbst über die Entziehung der Fahrerlaubnis zu befinden (vgl. dazu Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl., § 3 StVG Rdnr. 15 ff.). Ob eine Entziehung der Fahrerlaubnis „in Betracht kommt“, beurteilt sich danach, ob das Strafverfahren eine Straftat zum Gegenstand hat, an deren Begehung die Fahrerlaubnisentziehung nach § 69 StGB anknüpfen darf. In einem solchen Strafverfahren muss sich aus den Urteilsgründen auch ergeben, weshalb die Fahrerlaubnis entzogen oder – im gegenteiligen Fall – weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam (§ 267 Abs. 6 StPO). Die Bindung ergreift den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, also nicht nur die Tat im Sinne des sachlichen Strafrechts, sondern den gesamten Vorgang, auf den sich die Untersuchung erstreckt. Sie gilt aber nur für den Fall, dass die gerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis rechtlich möglich ist (vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 10.5.2006 – 10 B 10371/06 -, NJW 2006, 2714). Dies ist hier vom Verwaltungsgericht verneint worden.

Das Strafverfahren war durch Anzeige der zuständigen Polizeibehörde im Hinblick auf einen Verstoß nach § 29 BtMG (Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten) eingeleitet worden. Damit stand ein Regeltatbestand im Sinne des § 69 Abs. 2 StGB nicht in Rede. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt eine rechtswidrige Tat, die bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen worden ist, voraus. Da § 69 StGB den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs bezweckt, erfordert die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs, dass die Anlasstat tragfähige Rückschlüsse darauf zulässt, der Täter werde bereit sein, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen (BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 27.4.2005 – GSSt 2/04 -, NJW 2005, 1957). Allerdings hat der Große Strafsenat entschieden, dass selbst für den Fall eines Transportes von Betäubungsmitteln, über den hier nichts bekannt ist (vgl. demgegenüber Senat, Beschluss vom 18.12.2002 – 12 ME 755/02 -, V. n. b.), das Vorliegen einer „Zusammenhangstat“ im Sinne des § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht ohne weiteres angenommen werden kann.

Wie dargelegt betrifft das (vorläufige) Berücksichtigungsverbot jedoch nicht nur bestimmte strafrechtliche Tatbestände, sondern den gesamten historischen Vorgang, der Gegen­stand des Strafverfahrens ist. Was den insoweit auch in Betracht kommenden Tatbestand des § 316 StGB angeht, hat das Verwaltungsgericht zwar nach näherer Prüfung das Vorliegen der Voraussetzungen verneint. Es ist aber grundsätzlich nicht Aufgabe der Straßenverkehrsbehörde oder des Verwaltungsgerichts, insoweit eine strafrechtliche Bewertung gewissermaßen im Wege einer vorweggenommenen Beweiswürdigung vorzunehmen, die vielmehr den zuständigen Stellen im Rahmen des Strafverfahrens vorbehalten ist. Insofern sprechen hier gewichtige Gründe dafür, dass der Antragsgegner im Hinblick auf das Berücksichtigungsverbot des § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht befugt war, die Entziehung der Fahrerlaubnis zu verfügen.

Gleichwohl kann der Antragsteller mit seinem Begehren nach Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht durchdringen. Die Feststellung, dass ein Verwaltungsakt im Beurteilungszeitpunkt rechtswidrig ist, besagt noch nichts darüber, ob der sich aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Hauptsacheverfahren ergebende Aufhebungsanspruch unter besonderen Umständen ausgeschlossen ist. Nach einer in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung handelt es sich bei § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG um eine der Durchsetzung des materiellen Rechts dienende Verfahrensvorschrift. Verstöße gegen verfahrensrechtliche Bestimmungen sind aber gemäß § 46 VwVfG (i.V.m. § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG) unbeachtlich, wenn sie ohne Einfluss auf die Entscheidung in der Sache gewesen sind (Bay.VGH, Beschluss vom 14.2.2006 – 11 CS 05.1210 -, juris). Das ist hier der Fall, denn der Antragsgegner ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, nach Einstellung des Strafverfahrens die Fahrerlaubnis des Antragstellers aus den vom Verwaltungsgericht genannten zutreffenden Gründen, die auch der Antragsteller nicht in Zweifel zieht, (erneut) auszusprechen. Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man den Ausschluss des Aufhebungsanspruchs in dem Rechtsgrundsatz „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“ oder unter dem Gesichtspunkt des fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhangs begründet sieht (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 113 Rn. 58). Unter diesen Umständen besteht auch kein Anlass, dem Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.