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Rohmessdaten bei Geschwindigkeitsmessungen – Recht auf Einsicht und faires Verfahren

Grafik mit der Aufschrift „Rohmessdaten bei Geschwindigkeitsmessungen einfach erklärt“, daneben ein Blitzer und ein 100-km/h-Verkehrsschild

Rohmessdaten sind der Kern jeder digitalen Geschwindigkeitsmessung im Straßenverkehr. Sie bilden das tatsächliche Geschehen zum Zeitpunkt der Messung ab und dienen als objektive Grundlage für die Berechnung des vorgeworfenen Geschwindigkeitsverstoßes. Ihre Bedeutung für die Verteidigung Betroffener ist kaum zu überschätzen – vor allem im Hinblick auf das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf ein faires Verfahren.


Was sind Rohmessdaten?

Rohmessdaten sind die unverarbeiteten Messwerte, die ein Geschwindigkeitsmessgerät aufzeichnet, bevor daraus durch die Auswertesoftware ein verwertbares Messergebnis erzeugt wird. Sie sind gewissermaßen die „Mess-Originale“ und ermöglichen eine nachträgliche Kontrolle des gesamten Messvorgangs – etwa durch Sachverständige im Rahmen einer Verteidigungsstrategie.


Rechtliche Grundlage: Recht auf ein faires Verfahren

Das Grundgesetz garantiert jedem Bürger ein faires Verfahren – abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Dieses umfasst unter anderem auch den Anspruch auf Zugang zu allen relevanten Informationen, die bei einer Behörde vorhanden sind, selbst wenn sie nicht Bestandteil der Bußgeldakte sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 12.11.2020 (Az. 2 BvR 1616/18) klargestellt, dass Rohmessdaten einer Geschwindigkeitsmessung zu diesen relevanten Informationen gehören. Die Ablehnung eines entsprechenden Einsichtsantrags kann daher eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG darstellen.


Instanzrechtsprechung: Der Zugang zu Rohmessdaten wird gewährt

Zahlreiche Amtsgerichte folgen mittlerweile den verfassungsrechtlichen Vorgaben und verpflichten die Bußgeldbehörden zur Herausgabe der Rohmessdaten – teilweise sogar der gesamten Messreihe des Tattages. Beispiele:

  • AG Leverkusen (Beschl. v. 08.02.2021, Az. 55 OWi 120/21)
  • AG Köln, AG Langenfeld, AG Solingen, AG Ratingen: Einsicht in vollständige Messreihen
  • AG Beckum (Beschl. v. 01.11.2024, Az. 20 OWi 136/23 (b)) stellte klar: „Da es dem Betroffenen aufgrund des standardisierten Messverfahrens obliegt, konkrete Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung vorzutragen, sind ihm die Daten der gesamten Messserie zur Verfügung zu stellen. Wird dem Betroffenen dies versagt, wird ihm die Möglichkeit verwehrt bzw. unangemessen erschwert, die Daten auf Fehler untersuchen zu lassen, die der ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit ggf. zugrunde liegen.“

Diese Entscheidungen stärken die Rechte der Betroffenen und machen deutlich: Auch beim standardisierten Messverfahren bleibt der Anspruch auf Verteidigung durch eigene Beweiserhebung bestehen.


Eingeschränkte Rechtsprechung: Nur teilweise Einsicht?

Nicht alle Gerichte gehen so weit. Das LG Hagen etwa erkannte mit Beschluss vom 05.03.2021 (Az. 46 Qs 56/20) nur einen eingeschränkten Anspruch auf Rohmessdaten – bezogen allein auf den konkreten Geschwindigkeitsverstoß, nicht aber auf die gesamte Messreihe.


Bundesverwaltungsgericht: Mitwirkungspflicht des Betroffenen

Mit Urteil vom 02.02.2023 (Az. BVerwG 3 C 14.21) hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass sich nur derjenige erfolgreich auf eine unzulässige Verweigerung des Datenzugangs berufen kann, der zuvor alles Zumutbare unternommen hat, um diesen Zugang zu erhalten. Es gilt also: Ohne Antrag keine Verletzung.


Was ist, wenn Rohmessdaten nicht gespeichert werden?

Die Frage, wie mit nicht gespeicherten Rohmessdaten umzugehen ist, wird von den Verfassungsgerichten unterschiedlich beantwortet:

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes (Urt. v. 05.07.2019, Az. Lv 7/17):

  • Fehlen der Rohmessdaten verhindert effektive Verteidigung
  • Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren
  • Nachträgliche Prüfungen können das nicht kompensieren

Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (Beschl. v. 22.07.2022, Az. VGH B 30/21):

  • Sieht in der Nichtverfügbarkeit keine „Blackbox“
  • Der Betroffene sei nicht schutzlos ausgeliefert

Die juristische Bewertung ist also nicht einheitlich – hier ist sorgfältige anwaltliche Prüfung notwendig.


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