Der Begriff des standardisierten Meßverfahrens hat in verkehrsrechtlichen Bußgeldangelegenheiten eine erhebliche Bedeutung. Er betrifft die Begründungsanforderungen, denen ein Urteil in Bußgeldsachen zu genügen hat. Ist das Urteil unzureichend begründet und legt der Betroffene dagegen Rechtsbeschwerde ein, so kann das Rechtsbeschwerdegericht die Sache allein schon wegen der unzureichende Begründung an die vorherige Instanz zurückverweisen. Beruht die Verurteilung – wie in Verkehrsbußgeldsachen häufig – auf dem Ergebnis eines technischen Meßverfahrens (z.B. Radar- oder Lasermeßgerät), so sollte das Gericht in seinem Urteil grundsätzlich auch ausführen, warum es dieses Meßverfahren als taugliches Beweismittel ansieht. Für sogenannte standardisierte Meßverfahren statuiert der Bundesgerichtshof dagegen vereinfachte Begründungsanforderungen.
In seinem Beschluss vom 19.08.1993 führt der Bundesgerichtshof aus:
„Nach § 261 StPO entscheidet der Tatrichter, soweit nicht wissenschaftliche Erkenntnisse, Gesetze der Logik und Erfahrungssätze entgegenstehen, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. An gesetzliche Beweisregeln ist er nicht gebunden. Da die tatrichterliche Überzeugung vom Rechtsmittelgericht nur in eingeschränktem Maße und nur an Hand der Urteilsgründe überprüft werden kann, müssen diese so gefaßt sein, daß sie eine auf Rechtsfehler beschränkte Richtigkeitskontrolle möglich machen.“
„Die Ausführungen des Urteils sind jedoch nicht Selbstzweck (..).In welchem Umfang sie geboten sind, richtet sich nach der jeweiligen Beweislage, nicht zuletzt auch nach der Bedeutung, die der Beweisfrage unter Berücksichtigung des Tatvorwurfs und des Verteidigungsvorbringens für die Wahrheitsfindung zukommt (…). Nichts anderes ist anzunehmen, wenn die Überzeugung des Tatrichters auf Meßergebnissen beruht, die mit anerkannten Geräten in einem weithin standardisierten und tagtäglich praktizierten Verfahren gewonnen werden (…). Zwar dürfen die Gerichte vor möglichen Gerätemängeln, Bedienungsfehlern und systemimmanenten Meßungenauigkeiten nicht die Augen verschließen. Die Anforderungen, die deshalb von Rechts wegen an Meßgeräte und -methoden gestellt werden müssen, um die grundsätzliche Anerkennung ihrer Ergebnisse im gerichtlichen Verfahren rechtfertigen zu können, dürfen jedoch nicht mit den sachlichrechtlichen Anforderungen an den Inhalt der Urteilsgründe gleichgesetzt werden.“
„Soweit es sich um allgemein anerkannte und häufig angewandte Untersuchungsverfahren handelt, ist der Tatrichter nicht verpflichtet, Erörterungen über deren Zuverlässigkeit anzustellen oder die wesentlichen tatsächlichen Grundlagen des Gutachtens im Urteil mitzuteilen (BGHSt 12, 311, 314).“
An die Verwertung eines Meßwerts, der in einem standardisierten Verfahren gewonnen wurde, stellt der Bundesgerichtshof somit geringere Begründungsanforderungen. Er führt weiter aus:
„Zwar besteht kein Erfahrungssatz, daß die gebräuchlichen Geschwindigkeitsmeßgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern (…). Wie bei allen technischen Untersuchungsergebnissen, insbesondere solchen, die in Bereichen des täglichen Lebens außerhalb von Laboratorien durch „angelerntes“ Personal gewonnen werden, ist eine absolute Genauigkeit, d.h. hier eine sichere Übereinstimmung mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit, nicht möglich. Der Tatrichter muß sich deshalb auch bei der Berücksichtigung der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmeßgeräten bewußt sein, daß Fehler nicht auszuschließen sind. Den nach den jeweiligen technisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen möglichen Fehlerquellen hat er durch die Berücksichtigung von Meßtoleranzen Rechnung zu tragen (vgl. BGHSt 28, 1, 2). Darüber hinaus muß er sich nur dann von der Zuverlässigkeit der Messungen überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Meßfehler gegeben sind (vgl. OLG Hamm NStZ 1990, 546).“
Der Senat zählt sodann einige anerkannte Meßverfahren auf:
„Der Senat verkennt nicht, daß die Ermittlung der Geschwindigkeit eines Kraftfahrzeuges – anders als die Analyse von Betäubungsmitteln oder der Nachweis der Blutalkoholkonzentration – nicht im Wege eines einzigen standardisierten Verfahrens erfolgt. Die in der Praxis anzutreffenden und von der Rechtsprechung prinzipiell anerkannten Verfahren der Geschwindigkeitsmessung sind zahlreich. Sie reichen von der Schätzung, dem Ablesen des Tachometers eines in unverändertem Abstand nach- oder vorausfahrenden Fahrzeuges und Messungen aus der Luft, über das Funkstoppverfahren, das Spiegelmeßverfahren, das Radarverfahren, die Lichtschrankenmessung, das Koaxialkabelverfahren und das Lasermeßverfahren bis zur Auswertung des Fahrtenschreiberschaublattes des zu schnell fahrenden Fahrzeuges (…). Da die Zuverlässigkeit der verschiedenen Meßmethoden und ihr vom Tatrichter zu beurteilender Beweiswert naturgemäß voneinander abweichen, kann es hier grundsätzlich nicht mit der Wiedergabe der als erwiesen erachteten Geschwindigkeit sein Bewenden haben. Vielmehr muß der Tatrichter, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Kontrolle der Beweiswürdigung zu ermöglichen, neben dem angewandten Meßverfahren jeweils auch den berücksichtigten Toleranzwert mitteilen. Einer Angabe des verwendeten Gerätetyps bedarf es dagegen nicht.
e) Die Angaben zum Meßverfahren und zum Toleranzwert bilden somit die Grundlage einer ausreichenden, nachvollziehbaren Beweiswürdigung. Gesteht der Betroffene uneingeschränkt und glaubhaft ein, die vorgeworfene Geschwindigkeit – mindestens – gefahren zu sein, so bedarf es nicht einmal der Angabe des Meßverfahrens und der Toleranzwerte (…).“
Das bedeutet: Wenn ein standardisiertes Meßverfahren verwendet wurde, muß das Gericht in seinem Urteil bezüglich der Einzelheiten der Messung mitteilen
- welches Verfahren angewandt wurde
- welcher Toleranzwert berücksichtigt wurde.
Ein Gerätetyp braucht dagegen nicht angegeben zu werden. Falls der Betroffene die Tat zugesteht, brauchen noch nicht einmal diese minimalen Begründungsanforderungen eingehalten zu werden.
Welche Meßverfahren als standardisiert zu gelten haben, ist nicht abschließend festgelegt. Entsprechend dem Fortschritt der Technik wird diese Frage immer wieder relevant, wenn die zuständigen Verkehrsüberwachungsbehörden neue Meßverfahren einsetzen.
In seinem Beschluss vom 30.10.1997 erläutert der Bundesgerichtshof den Begriff des standardisierten Meßverfahrens:
„Ergänzend weist der Senat darauf hin, daß der in der Entscheidung vom 19. August 1993 verwendete Begriff „standardisiertes (Meß-)Verfahren“ (..) nicht bedeutet, daß die Messung in einem voll automatisierten, menschliche Handhabungsfehler praktisch ausschließenden Verfahren stattfinden muß. Vielmehr ist hierunter ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren zu verstehen, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, daß unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (…). Diesen Anforderungen werden (…) grundsätzlich auch Lasermeßverfahren gerecht, bei denen die Geschwindigkeitsmessung von besonders geschultem Meßpersonal unter Beachtung der Betriebsanleitung des Geräteherstellers und der Zulassungsbedingungen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt durchgeführt wird (…).“
Das bedeutet jedoch nicht, dass in jedem Fall, in dem ein standardisiertes Meßverfahren angewandt wurde, zu den Einzelheiten der Messung nur Meßwert, angewandtes Meßverfahren und Toleranzwert angegeben werden müßte. Die Begründungserleichterungen für standardisierte Meßverfahren können nur dann gelten, wenn feststeht, dass das Verfahren auch korrekt angewandt wurde und keine Anhaltspunkte für Bedienfehler oder technische Meßfehler vorliegen.
Hierauf weist zum Beispiel das Oberlandesgericht Koblenz in seinem Beschluss vom 12.08.2005 hin:
„Die Lasermessung mit den gebräuchlichen Geräten (zu denen auch das hier verwendete Riegl FG 21P wie dessen Vorläufer LR-90 -235/P zählt) ist daher jedenfalls in Bezug auf den eigentlichen Messvorgang ein standardisiertes Verfahren im Sinne der Rechtsprechung (BGH aaO.). Das gilt jedoch nur dann, wenn das Gerät von seinem Bedienungspersonal auch wirklich standardmäßig, d.h. in geeichtem Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungs-/Gebrauchsanweisung verwendet wird, und zwar nicht nur beim eigentlichen Messvorgang, sondern auch und gerade bei den ihm vorausgehenden Gerätetests. Denn nur durch diese Tests kann mit der für eine spätere Verurteilung ausreichenden Sicherheit festgestellt werden, ob das Gerät in seiner konkreten Aufstellsituation tatsächlich mit der vom Richter bei standardisierten Messverfahren vorausgesetzten Präzision arbeitet und so eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stellt.“
Ergibt sich also aus dem festgestellten Sachverhalt ein Aspekt, der von dem dem vorgesehenen Ablauf des Meßverfahrens abweicht (im Fall des OLG Koblenz wurde z.B. bei dem vor der Messung durchzuführenden Align-Test statt der vorgesehenen 150 – 200 Meter ein Ziel in 133 Meter Entfernung angepeilt), so darf sich das Gericht nicht mehr mit den oben ausgeführten Begründungserleichterungen begnügen, sondern muss sich individuell mit dem Meßverfahren und der Bedeutung der konkreten Abweichung vom Meßverfahren befassen. Hierzu wird es im Regelfall einen Sachverständigen hinzuziehen müssen.
- Rechtsprechung zur Anerkennung als standardisiertes Meßverfahren
- Rechtsprechung zu Messtoleranzen bei Verkehrsmessungen