I. Rechtliches Gehör im Ordnungswidrigkeitenverfahren
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist durch Art. 103 Abs. 1 GG garantiert. Auch im Bußgeldverfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) ist dieser Anspruch zwingend zu beachten. Wird das rechtliche Gehör verletzt, kann dies im Rahmen der Rechtsbeschwerde gerügt werden – als eigenständiger Zulassungsgrund nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG oder (bei Gehörsverstößen durch das Rechtsbeschwerdegericht) mit der Anhörungsrüge nach § 356a StPO. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Gehörsrüge im regulären Rechtsbeschwerdeverfahren.
II. Gehörsverstöße als Zulassungsgrund nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG
Eine Rüge wegen Verletzung rechtlichen Gehörs ist in Bußgeldverfahren von besonderer praktischer Bedeutung, da sie keine Mindesthöhe des Bußgelds voraussetzt. Liegt ein solcher Verstoß vor, ist die Rechtsbeschwerde stets zuzulassen, selbst bei geringfügigen Sanktionen. Selbstverständlich kann eine Gehörsrüge auch bei zulassungsfreien Rechtsbeschwerden erhoben werden. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs kann somit bei jedem Bußgeldurteil geltend gemacht werden.
Beispielhafte Fallkonstellationen, die von den Oberlandesgerichten als Gehörsverletzungen gewertet wurden:
Wenn ein zentrales Verteidigungsvorbringen, etwa eine Teilnahmebescheinigung an einer verkehrspsychologischen Maßnahme zur Begründung einer geringeren Geldbuße, im Urteil nicht gewürdigt wird, stellt dies laut OLG Brandenburg (Beschl. v. 17.04.2025) eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Gleiches gilt laut OLG Bamberg (Beschl. v. 03.07.2018), wenn eine schriftliche Einlassung eines vom Erscheinen entbundenen Betroffenen, die dem Gericht erst am Sitzungstag übermittelt wird, unbeachtet bleibt.
Auch Hinweise auf die Änderung rechtlicher Bewertungen müssen vor der Entscheidung mitgeteilt werden: So hat das Kammergericht Berlin (Beschl. v. 13.04.2016) entschieden, dass das Gericht den Betroffenen vor Verkündung des Urteils darauf hinweisen muss, wenn es statt von Fahrlässigkeit nun Vorsatz annehmen will.
Ein weiteres typisches Beispiel betrifft die Ablehnung von Beweisanträgen ohne tragfähige Begründung: Nach Auffassung des OLG Hamm (Beschl. v. 15.12.2015) muss das Gericht, wenn es einen Antrag mit Verweis auf § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ablehnt, im Urteil nachvollziehbar darlegen, warum es die beantragte Beweiserhebung für entbehrlich hält. Unterbleibt dies, liegt ein Gehörsverstoß nahe.
Auch unzureichende Akteneinsicht kann zur erfolgreichen Gehörsrüge führen: Wird z. B. nur kurzzeitig Einsicht in eine über 100 Seiten umfassende Bedienungsanleitung eines Messgeräts gewährt, muss laut OLG Hamm (Beschl. v. 14.11.2012) im Rahmen der Rechtsbeschwerde allerdings konkret dargelegt werden, was der Betroffene bei ordnungsgemäßer Akteneinsicht vorgetragen hätte.
Schließlich hat das OLG Hamm (Beschl. v. 13.01.2016) klargestellt, dass auch die Nichtberücksichtigung eines glaubhaft geschilderten alternativen Fahrerhinweises (hier: der Bruder des Betroffenen als möglicher Fahrer) bei gleichzeitiger Ablehnung der Beweiserhebung eine Gehörsverletzung darstellt – insbesondere, wenn sich der Sachverhalt nicht ohne Inaugenscheinnahme aufklären lässt.
III. Formelle Anforderungen an die Gehörsrüge
Die Rüge muss als Verfahrensrüge im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG begründet werden. Das bedeutet:
- Die gerügte Gehörsverletzung ist präzise zu bezeichnen.
- Es ist darzulegen, welcher Vortrag übergangen wurde.
- Zudem muss ausgeführt werden, welche Auswirkungen dieser Vortrag auf die Entscheidung gehabt hätte, d. h. wie sich der Prozessverlauf oder das Urteil bei ordnungsgemäßer Anhörung möglicherweise verändert hätte.
IV. Abgrenzung zur Anhörungsrüge nach § 356a StPO
Die Anhörungsrüge gemäß § 356a StPO ist von der Gehörsrüge im Rahmen der Rechtsbeschwerde abzugrenzen. Sie greift nicht, wenn das Amtsgericht rechtliches Gehör verletzt hat – dies ist Gegenstand der regulären Rechtsbeschwerde.
§ 356a StPO betrifft ausschließlich Gehörsverstöße durch das Rechtsbeschwerdegericht. Dies kann etwa der Fall sein, wenn Schriftsätze nicht berücksichtigt, Anträge übergangen oder Stellungnahmefristen (§ 349 Abs. 3 StPO) missachtet werden. Die Anhörungsrüge ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf und unterliegt einer einwöchigen Frist ab Kenntnis des Gehörsverstoßes.
Während also die Gehörsrüge in der Rechtsbeschwerde gegen das amtsgerichtliche Urteil gerichtet ist, wendet sich die Anhörungsrüge nach § 356a StPO gegen die Revisionsentscheidung selbst.
Die Gehörsrüge im Bußgeldverfahren ist ein praxisrelevanter und oft erfolgreicher Weg zur Korrektur fehlerhafter Urteile, wenn der Vortrag des Betroffenen unbeachtet geblieben ist oder Beweisanträge unzureichend gewürdigt wurden. Entscheidend ist die sorgfältige und formgerechte Begründung im Rahmen der Rechtsbeschwerde.