I. Einführung
Die Aufklärungsrüge ist eine Verfahrensrüge, mit der im Rechtsbeschwerdeverfahren nach §§ 79 ff. OWiG gerügt wird, dass das Tatgericht seiner aus § 244 Abs. 2 StPO resultierenden Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung nicht ausreichend nachgekommen ist. Über § 71 Abs. 1 OWiG ist diese Vorschrift im Bußgeldverfahren entsprechend anwendbar.
In der gerichtlichen Praxis ist die Aufklärungsrüge von erheblicher Bedeutung, wird jedoch häufig unzulässig erhoben, weil die hohen Darlegungsanforderungen nicht erfüllt sind.
II. Aufklärungspflicht des Gerichts im Bußgeldverfahren
Im Bußgeldverfahren gilt zwar der Grundsatz der richterlichen Aufklärungspflicht, jedoch mit verfahrensspezifischen Besonderheiten. In der Hauptverhandlung ist das Gericht nicht an das formale Beweisantragsrecht des § 244 Abs. 3 StPO gebunden, sondern bestimmt den Umfang der Beweisaufnahme nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 77 Abs. 1 OWiG).
Eine Beweiserhebung ist dabei immer dann erforderlich, wenn die Sachlage unter Berücksichtigung des Akteninhalts und des bisherigen Verfahrensverlaufs zur Erhebung weiterer Beweise drängt oder sie zumindest nahelegt (BGH, NJW 2005, 1381). Der Umfang der Aufklärungspflicht richtet sich nach:
- der den bisherigen Erkenntnissen und
- der Bedeutung dessen, was durch weitere Ermittlungen noch hätte bewiesen werden können.
III. Zulässigkeit der Aufklärungsrüge – Anforderungen an die Begründung
Die Aufklärungsrüge ist eine Verfahrensrüge im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, die entsprechend ausführlich und strukturiert begründet werden muss. Allgemeine Hinweise wie „die Sache sei nicht genügend aufgeklärt worden“ oder pauschale Beanstandungen („keine Ortsbesichtigung“) reichen nicht aus (vgl. BGH, NStZ 2009, 468).
Zur ordnungsgemäßen Begründung gehören insbesondere folgende Elemente:
- konkrete Darstellung der Beweisfrage,
- Angabe der Beweismittel, auf die sich das Gericht gestützt hat,
- Benennung des nicht erhobenen Beweismittels,
- Darstellung des erwarteten Beweisergebnisses, vergleichbar mit dem Beweisthema in einem Beweisantrag,
- Erklärung, warum sich die Beweiserhebung dem Gericht hätte aufdrängen müssen,
- ggf. Angabe, warum in der Hauptverhandlung kein Beweisantrag gestellt wurde.
Wichtig ist: Die Aufklärungsrüge ist nicht dazu da, Versäumnisse des Verteidigers im Erkenntnisverfahren nachträglich zu kompensieren. Wurde z. B. kein Beweisantrag gestellt, muss der Verteidiger explizit darlegen, warum dennoch eine Aufklärungspflicht bestand und sich die Beweiserhebung aufdrängte.
IV. Abgrenzung zur Gehörsrüge und aktuelle BGH-Rechtsprechung
Die Aufklärungsrüge ist von der (ebenfalls rügbaren) fehlerhaften Ablehnung eines Beweisantrags zu unterscheiden.
Durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 wurde § 244 Abs. 3 StPO reformiert. Der BGH (Beschluss vom 11.10.2021 – 5 StR 188/21) hat hierzu klargestellt:
Ein Beweisantrag liegt bereits dann vor, wenn eine bestimmt behauptete Tatsache durch ein konkret benanntes Beweismittel belegt werden soll und der Antrag erkennen lässt, warum das Beweismittel zur Beweisführung geeignet ist. Plausibilitätsüberlegungen oder die Bewertung der Wahrscheinlichkeit des Beweisergebnisses sind nach der Neufassung nicht mehr erforderlich.
In der Praxis bedeutet das: Wurde ein formgerechter Beweisantrag gestellt, darf das Gericht diesen nicht mehr mit dem bloßen Argument der Unwahrscheinlichkeit oder fehlender Relevanz ablehnen. Die unberechtigte Ablehnung kann dann alternativ oder kumulativ zur Aufklärungsrüge mit einer eigenen Verfahrensrüge angegriffen werden.
V. Beispiele für typische Aufklärungsrüge-Konstellationen im OWiG-Verfahren
- Nichtvernehmung eines benannten Zeugen zur Fahrereigenschaft, obwohl aus den Akten Hinweise auf dessen Rolle hervorgehen.
- Verzicht auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Messwertzuverlässigkeit trotz konkreter Zweifel (z. B. Hinweis auf Schulungsmängel oder atypische Umstände).
- Unterlassene Akteneinsicht in technische Unterlagen eines Messgeräts bei substanziellem Antrag.
- Nichtberücksichtigung der Teilnahme an einer verkehrspsychologischen Maßnahme bei der Zumessungsentscheidung (vgl. OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.04.2025).
Die Aufklärungsrüge ist ein komplexes, aber potenziell sehr wirkungsvolles Instrument zur Überprüfung von Bußgeldurteilen. Sie unterliegt hohen formalen Anforderungen, die oftmals nicht eingehalten werden – insbesondere wenn sie lediglich pauschal oder ohne nachvollziehbare Begründung erhoben wird.
Für eine zulässige und erfolgreiche Rüge ist daher eine präzise, strukturierte und vollständige Darlegung aller entscheidungsrelevanten Punkte erforderlich. Nur wenn sich die Notwendigkeit der unterlassenen Beweiserhebung dem Gericht objektiv hätte aufdrängen müssen, besteht Aussicht auf Erfolg.