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Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren – Was ist zulässig und worauf kommt es an?

Nachfahren zur Nachtzeit

Geschwindigkeitsüberschreitung durch Nachfahren – ist das rechtlich haltbar? Die Messung durch Nachfahren ist zwar grundsätzlich als Beweismittel anerkannt, stellt jedoch kein standardisiertes Messverfahren dar. Das hat erhebliche Konsequenzen für die rechtliche Bewertung und bietet Angriffspunkte für die Verteidigung im Bußgeldverfahren.

1. Was ist eine Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren?

Bei dieser Methode folgt ein Polizeifahrzeug dem verdächtigen Fahrzeug über eine gewisse Strecke. Anhand der eigenen Tachometeranzeige wird die Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs abgeschätzt. Es handelt sich hierbei nicht um ein technisches Messverfahren mit digitaler Aufzeichnung, sondern um eine subjektive Einschätzung, gestützt allein auf die Beobachtungen der Polizeibeamten.

Auch Messungen mit ungeeichtem Tacho – etwa bei zivilen Polizeifahrzeugen oder Privatfahrzeugen von Polizeibeamten – können verwertbar sein (OLG Hamm, Beschl. v. 19.03.2009, Az. 3 Ss OWi 94/09). Dennoch gilt: Je ungenauer die Methode, desto höher die Anforderungen an die Urteilsbegründung.


2. Voraussetzungen für eine verwertbare Messung

Die Gerichte verlangen eine sorgfältige Dokumentation der Umstände – insbesondere, wenn es sich um eine nicht-standardisierte Messung handelt. Dazu gehören:

a) Messstrecke

Die Länge der Messstrecke hängt von der Geschwindigkeit ab:

Geschwindigkeit Mindestlänge der Messstrecke Maximaler Verfolgungsabstand
50–70 km/h 300–400 Meter max. 30 Meter
70–90 km/h 400–600 Meter max. 50 Meter
90–120 km/h mind. 500 Meter max. 100 Meter

Das OLG Hamm (Beschl. v. 07.02.2013) fordert sogar eine Messstrecke über das Fünffache des Abstands zwischen den Fahrzeugen.

b) Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug

Der Abstand muss gleichbleibend und dokumentiert sein. Veränderungen durch Bremsvorgänge oder Verkehrseinflüsse müssen ausgeschlossen oder erklärt werden.

c) Tachometer und Toleranzabzug

Bei ungeeichtem Tacho sind zusätzliche Toleranzabzüge vorzunehmen:

  • mind. 7–10 % des Skalenwertes

  • zzgl. weiterer 6–12 % wegen Ablesefehlern oder Abstandsveränderungen
    (OLG Köln, Beschl. v. 03.12.2021, Az. 1 RBs 254/21)


3. Nachtzeitmessungen – besonders strenge Anforderungen

Messungen bei Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen sind besonders kritisch zu bewerten.

a) Sicht- und Beleuchtungsverhältnisse

Die reine Erkennbarkeit von Rücklichtern reicht nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.09.2011). Es müssen die Umrisse des Fahrzeugs sichtbar sein – insbesondere bei größeren Abständen (OLG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.2017).

b) Orientierungspunkte

Zur Abstandsschätzung müssen reflektierende Leitpfosten oder Fahrbahnmarkierungen verwendet werden – und diese müssen auch sichtbar gewesen sein.

c) Dokumentation im Urteil

Das Urteil muss enthalten:

  • Nähere Angaben, wie der gleich bleibende Abstand zum Fahrzeug des Betroffenen festgestellt wurde, insbesondere anhand welcher Orientierungspunkte dieser ermittelt wurde (z.B. Leitpfosten auf der Autobahn). Dies ist insbesondere von Bedeutung wenn der Zwischenraum zwischen den Fahrzeugen nicht vollständig erhellt wird und damit auch die Leitpfosten nicht in voller Länge dieser Strecke reflektieren (OLG Oldenburg, Beschl. v. 21.03.17). Ist dies allerdings der Fall, hält zumindest das OLG Celle bei einem Abstand von 30 m weitere Feststellungen für entbehrlich (OLG Celle, Beschl. vom 11.03.13). Bei einem Abstand von vier bis fünf Fahrzeuglängen sind nach Auffassung des OLG Hamm nähere Feststellungen erforderlich (OLG Hamm, Beschl. v. 15.09.11). Das Kammergericht Berlin läßt einen Abstand von 300 m zu, sofern ausreichende Feststellungen zur Beleuchtung und zu den Verkehrsverhältnissen erfolgen. (KG Berlin, Beschl. v. 22.08.17)
  • Das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 15.09.11) verlangt außerdem eine Erkennbarkeit der Umrisse des Betroffenenfahrzeugs. Die bloße Erkennbarkeit der Rücklichter reicht nicht aus.

Fehlt eine dieser Angaben, ist das Urteil in der Regel angreifbar (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 22.08.2017, Az. 3 Ws (B) 232/17).


4. Was gilt bei Motorrädern?

Geschwindigkeitsmessungen durch Polizeimotorräder, z.B. mit dem ProViDa-System, sind nur verwertbar bei aufrechter Geradeausfahrt. Schräglagen während der Messung schließen eine standardisierte Messung aus, die Messung ist deswegen aber nicht in jedem Fall unverwertbar (OLG Hamm, Beschl. v. 09.01.2023, Az. 5 RBs 334/22).


5. Fehlerquellen und Verteidigungsmöglichkeiten

a) Abstandsveränderungen

Gerichte verlangen eine Erklärung, wie ein gleichbleibender Abstand festgestellt worden sein soll, während gleichzeitig verfolgt und gemessen wurde.

b) Lichtverhältnisse und Sichtkontakt

Fehlende Sichtverhältnisse führen zur Unverwertbarkeit der Messung – gerade bei Nachtfahrten.

c) Mangelhafte Begründung im Urteil

Das Urteil muss konkret, nachvollziehbar und lückenlos sein. Fehlen Angaben zu Messstrecke, Abstand, Geschwindigkeit oder Tachojustierung, ist das Urteil aufhebbar.


Rechtsprechung zur Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren