OLG Düsseldorf - Beschluss vom 11.10.99

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Zum Inhalt der Entscheidung: 1. Der Abstand hintereinander fahrender Kraftfahrzeuge kann nach der Lebenserfahrung durch eine Schätzung darin geübter Personen jedenfalls dann hinreichend verläßlich festgestellt werden, wenn die beteiligten Fahrzeuge aus nicht zu großer Entfernung über eine genügend lange Fahrstrecke ungehindert beobachtet werden können und es sich nicht um einen "Grenzfall", sondern um eine beträchtliche Unterschreitung des notwendigen Sicherheitsabstandes handelt.

2. Eine hinreichend genaue Abstandsschätzung ist ungeübten Personen in der Regel nicht möglich. Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen Erfahrungssatz, dessen Nichtberücksichtigung der Nichtanwendung einer Rechtsnorm gleichkommt und deshalb zu einer Verletzung sachlichen Rechts führt.

3. Enthält das Urteil keine Ausführungen zu der Frage, ob die Abstandsschätzung von einer darin geübten Person vorgenommen wurde, ist die Urteilsbegründung mangelhaft. Dies kann auch durch einen großzügigen "Sicherheitszuschlag" von etwa 100% zu Gunsten des Betroffenen nicht ausgeglichen werden.

 

Oberlandesgericht Düsseldorf

Beschluss vom 11.10.1999

2a Ss (OWi) 263/99 - (OWi) 74/99 II

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Aus den Gründen:

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen wegen "fahrlässiger Unterschreitung des erforderlichen Abstandes um weniger als 2/10 des halben Tachowertes" eine Geldbuße von 200,-- DM festgesetzt und ihm für die Dauer eines Monats verboten, Kraftfahrzeuge jeder Art im Straßenverkehr zu führen. Der gegen dieses Urteil gerichtete Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist als - gemäß § 79 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG ohne vorherige Zulassung statthafte - Rechtsbeschwerde auszulegen, die mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts (vorläufigen) Erfolg hat.

Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil folgte der Betroffene am 30. September 1998 auf der linken Fahrspur der Bundesautobahn A 46 einem Großraumfahrzeug des Typs T. P. in einem Abstand, der auf einer Strecke von fünfhundert Metern unverändert weniger als zehn Meter betrug. Zu diesen Feststellungen ist das Amtsgericht - entgegen der bestreitenden Einlassung des Betroffenen - aufgrund der Aussagen der Zeugen S und R gelangt, die mit einem Dienstwagen der Polizei bei etwa sechzig Meter Distanz dem Fahrzeug des Betroffenen gefolgt waren und hierbei dessen Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug auf einer Meßstrecke von fünfhundert Metern bei gleichbleibender Geschwindigkeit geschätzt hatten. Zur Beweiswürdigung enthält das Urteil folgende Ausführungen:

"Das Gericht hat weder Zweifel daran, dass die Polizeibeamten wahrheitsgemäß und richtig ausgesagt haben noch daran, dass die durchgeführte Messung aus ihrem Meßfahrzeug möglich gewesen ist ... Bei einem Abstand von etwa 60 Metern zu einem vorausfahrenden Fahrzeug ist die Möglichkeit einer Abstandsschätzung insbesondere vorliegend deshalb gegeben gewesen, weil das Fahrzeug auf welches der Betroffene zu dicht aufgefahren ist, das Fahrzeug des Betroffenen überragt hat. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dieser Frage bedurfte es nicht. Das Gericht ist als Verkehrsteilnehmer insoweit hinreichend sachkundig.

Zu Gunsten des Betroffenen hat das Gericht allerdings die von den Polizeibeamten angegebene Schätzung von ca. 5 Meter, die der Zeuge R. mit auch möglichen 5,95 Metern bzw. 3,50 Metern angegeben hat auf 10 Meter erhöht. Damit sind sämtliche erdenklichen Fehlerquellen hinreichend zu Gunsten des Betroffenen berücksichtigt."

Diese Ausführungen leiden an einem sachlich-rechtlichen Mangel, da die Beweiswürdigung nicht erkennen läßt, daß das Amtsgericht allgemein verbindliche Erfahrungssätze zur Beurteilung der Beweiskraft einer Abstandsschätzung beachtet hat.

Der Abstand hintereinander fahrender Kraftfahrzeuge kann nach der Lebenserfahrung durch eine Schätzung darin geübter Personen jedenfalls dann hinreichend verläßlich festgestellt werden, wenn die beteiligten Fahrzeuge aus nicht zu großer Entfernung über eine genügend lange Fahrstrecke ungehindert beobachtet werden können und es sich nicht um einen "Grenzfall", sondern um eine beträchtliche Unterschreitung des notwendigen Sicherheitsabstandes handelt. Bei der Beurteilung dieser Frage hat der Tatrichter dem Umstand Rechnung zu tragen, daß eine hinreichend genaue Abstandsschätzung ungeübten Personen in der Regel nicht möglich ist. Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen Erfahrungssatz, dessen Nichtberücksichtigung der Nichtanwendung einer Rechtsnorm gleichkommt und deshalb zu einer Verletzung sachlichen Rechts führt (vgl. zu alledem OLG Düsseldorf DAR 93, 360f.; Senatsbeschluß v. 9. September 1994, 2 Ss (OWi) 274/94 - (OWi) 95/94 II).

Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, daß diesem allgemeinen Erfahrungssatz bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung Rechnung getragen wurde. Das Amtsgericht hat dem Schuldspruch die zeugenschaftliche Abstandsschätzung zugrunde gelegt, ohne mitzuteilen, ob und inwieweit die Zeugen - sei es aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung oder aufgrund anderer Umstände - im Schätzen räumlicher Abstände geübt sind. Nähere Ausführungen hierzu waren im vorliegenden Fall schon aufgrund der schwierigen Schätzungssituation unverzichtbar, denn nach den tatrichterlichen Feststellungen hatten die Zeugen zu keinem Zeitpunkt aus seitlich versetzter Position ungehinderte Sicht auf die beiden Fahrzeuge und den zwischen ihnen bestehenden Abstand; sie mußten sich vielmehr bei der Schätzung an Hilfskriterien wie Pkw-Länge, Fahrbahnmarkierung, Leitpfostenabstand, Schlagschatten und Lichtmarkierung orientieren.

Auf dem sachlich-rechtlichen Mangel der Beweiswürdigung beruht das angefochtene Urteil, obwohl das Amtsgericht etwaigen Fehlern bei der zeugenschaftlichen Abstandsmessung durch einen großzügigen "Sicherheitszuschlag" von etwa 100% zu Gunsten des Betroffenen zu begegnen sucht. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß sich der Tatrichter bei ausreichender Berücksichtigung der allgemein verbindlichen Erfahrungssätze zur Beurteilung der Beweiskraft einer Abstandsschätzung schon von der grundsätzlichen Verwertbarkeit der im vorliegenden Meßverfahren gewonnenen Ergebnisse nicht überzeugen und diese mithin auch nicht dem Schuldspruch zugrunde legen kann.

Das angefochtene Urteil ist daher mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - zurückzuverweisen. Ein Anlaß, die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zu verweisen, besteht nicht.