BGH - Beschluss vom 05.03.69

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Zum Inhalt der Entscheidung: Zur Mindestfahrstrecke bei Abstandsverstößen

 

Bundesgerichtshof

Beschluss vom 05. März 1969

4 StR 375/68

Tenor:

Wer auf der Autobahn einem anderen Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von rund 100 km/h nicht nur ganz vorübergehend mit einem Abstand von etwa 5 m folgt, gefährdet in der Regel im Sinne des § 1 StVO den Vorausfahrenden, auch wenn dieser seine Geschwindigkeit unvermindert beibehält und sich deshalb der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen nicht vermindert.

Aus den Gründen:

I.

Das Amtsgericht Augsburg hat den Angeklagten wegen einer Übertretung nach § 9 Abs. 1 StVO i.V.m. § 21 StVG zu einer Geldstrafe verurteilt. Es hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

Der Angeklagte fuhr am 9. Juli 1967 gegen 14.26 Uhr mit seinem Personenkraftwagen bei km 66 auf der Bundesautobahn Augsburg-Ulm in Richtung Ulm. Er überholte hierbei mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h mehrere auf der rechten Fahrspur fahrende Fahrzeuge. Vor ihm fuhr mit annähernd gleicher Geschwindigkeit ein Personenkraftwagen Fiat. Vor diesem Fahrzeug war die Fahrbahn (gemeint ist ersichtlich die Überholspur) frei. Der Angeklagte näherte sich dem Personenkraftwagen Fiat bis auf etwa 5 m und behielt diesen Abstand über eine Strecke von ungefähr 250 m bei. Hinter dem Angeklagten fuhr in einem Abstand von 15 m ein weiteres Fahrzeug. In den Gründen hat das Amtsgericht angenommen, der Angeklagte habe seinen Vordermann konkret gefährdet. Es hat daraus allerdings die notwendige Folgerung einer Verurteilung des Angeklagten wegen einer Übertretung nach § 1 StVO nicht gezogen.

Das zur Entscheidung über die Revision des Angeklagten berufene Bayerische Oberste Landesgericht sieht in Übereinstimmung mit Entscheidungen der Oberlandesgerichte Celle (DAR 1962, 271), Hamm (VRS 28, 385, 386) und Saarbrücken (VRS 34, 228, 229) den Tatbestand des § 9 Abs. 1 StVO nicht als erfüllt an. Es möchte jedoch auch eine konkrete Gefährdung des Vordermannes (§ 1 StVO) verneinen. Nach seiner Auffassung kann eine konkrete Gefährdung des Vordermannes regelmäßig nicht allein aus der Tatsache eines - auch erheblichen - Unterschreitens des erforderlichen Sicherheitsabstandes hergeleitet werden. Es glaubt, daß zur Erfüllung des Tatbestandes des § 1 StVO weitere Umstände hinzukommen müssen, die die ernstliche Befürchtung begründen, dieses Unterschreiten könne gerade im gegebenen Fall zu einem Auffahren auf den Vordermann führen. An einer Entscheidung in diesem Sinn sieht sich das Bayerische Oberste Landesgericht durch ein Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 7. Dezember 1967 (VRS 34, 295) gehindert. Darin hat das Oberlandesgericht Karlsruhe die Meinung vertreten, wer auf einer Autobahn von seinem (gleich schnellen) Vordermann auf eine Strecke von 300 m einen Abstand einhalte, der kürzer sei als die in 0,8 Sekunden durchfahren Strecke, gefährde allein schon hierdurch seinen Vordermann im Sinne des § 1 StVO. Mit dieser Begründung hatte es in einem Fall, in dem der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h auf einer Strecke von mindestens 300 m in einem Abstand von höchstens 15 m hinter einem anderen Fahrzeug hergefahren war, die Verurteilung aus § 1 StVO bestätigt. Da das Bayerische Oberste Landesgericht sich mit der von ihm beabsichtigten Entscheidung in Widerspruch zu der das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe tragenden Rechtsansicht setzen würde, hat es die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die Vorlegung ist zulässig.

Daß ein Abstand von etwa 5 m bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h bei weitem zu gering ist, erkennt auch das Bayerische Oberste Landesgericht an. Die Frage, ob ein Kraftfahrer bei einem solchen Abstand seinen Vordermann im Sinne des § 1 StVO gefährdet, hängt zwar weitgehend von den Umständen des Einzelfalles ab und ist deshalb überwiegend tatsächlicher Natur. Jedoch bezieht sich das vom Bayerischen Obersten Landesgericht beabsichtigte Abweichen von dem Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe nicht auf eine Tat frage. Das vorlegende Gericht will eine Gefährdung nicht deshalb verneinen, weil sich die von ihm zu beurteilende Sachlage von dem dem Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe zugrunde liegenden Sachverhalt wesentlich unterscheide. Vielmehr will es bei gleicher Sachlage nicht den Grundsätzen folgen, die das Oberlandesgericht Karlsruhe in Fällen des Fahrens mit ungenügendem Abstand für die Bestimmung des Rechtsbegriffs "konkrete Gefährdung" entwickelt hat und die im vorliegenden Fall zur Bejahung dieses Tatbestandsmerkmals führen müßten. Damit will es hinsichtlich der Auslegung eines Rechtsbegriffs, also in der Entscheidung einer Rechtsfrage, von dem Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe abweichen.

III.

Der Senat kann der vom Bayerischen Obersten Landesgericht vertretenen Rechtsansicht nicht folgen. Zwar trifft der Ausgangspunkt des Vorlegungsbeschlusses zu, daß der Begriff der "konkreten Gefährdung" nicht allgemein gültig, sondern nur nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles bestimmbar ist. Die Gründe, aus denen das Bayerische Oberste Landesgericht eine konkrete Gefährdung und damit ein strafbares Verhalten des Angeklagten verneinen will, rechtfertigen jedoch eine solche Entscheidung nicht.

Nach der Meinung des vorlegenden Gerichts könnte eine konkrete Gefährdung des Vorausfahrenden nur bejaht werden, wenn dieser sein Fahrzeug abgebremst hätte. In diesem Fall wäre jedoch ein Auffahren des Angeklagten auf das Fahrzeug des Vordermannes nicht zu vermeiden gewesen, und zwar, wie auch der Vorlegungsbeschluß annimmt, selbst dann nicht, wenn er nur leicht abgebremst hätte. Schon bei einem nur verhältnismäßig geringfügigen Abbremsen des vorausfahrenden Fahrzeugs hätte dem Angeklagten bei einem Abstand von etwa 5 m und einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h jede ausreichende Reaktionsmöglichkeit gefehlt. Unter diesen Umständen läuft der Gedankengang des Bayerischen Obersten Landesgerichts darauf hinaus, das Vorliegen einer konkreten Gefährdung von Umständen abhängig zu machen, bei deren Eintritt bereits eine Schädigung des Bedrohten gegeben wäre. Gefährdung und Schädigung würden so in Fällen der hier zu erörternden Art praktisch zusammenfallen. Das Abbremsen des Vordermannes und das hierdurch zwangsläufig verursachte Auffahren des Nachfolgenden würden darüber entscheiden, ob der Vordermann vor dem Zusammenstoß konkret gefährdet war. Die Frage, ob ein Kraftfahrer durch das Einhalten eines zu geringen Abstandes seinen Vordermann gefährdet, muß aber ohne Rücksicht darauf beantwortet werden, ob ein solcher Kraftfahrer durch sein Verhalten einen Unfall verursacht hat. Das Wesen der Gefahr besteht nämlich gerade in der Ungewißheit des schädlichen Erfolges.

Für die von dem vorlegenden Gericht vertretene Auffassung sprechen auch nicht die Ausführungen des Senats in seinem Beschluß BGHSt 18, 271, 272, 273,  [BGH 15.02.1963 - 4 StR 404/62]zur Annahme einer (Gemein-)Gefahr i.S. des § 315 Abs. 3 StGB (a.F.) sei eine naheliegende Gefahr erforderlich, die auf einen unmittelbar bevorstehenden Unfall hindeute, wenn keine plötzliche Wendung eintrete, etwa dadurch, daß der Bedrohte infolge eines mehr oder weniger gefühlsmäßigen Erahnens oder Wahrnehmens der Gefahr eine Schutzmaßnahme treffe. In Fällen der vorliegenden Art hängt das Ausbleiben eines Unfalls zwar nicht von einer plötzlichen Wendung, insbesondere nicht von Abwehrmaßnahmen des vorausfahrenden Kraftfahrers ab; vielmehr kann es gerade umgekehrt erst durch Maßnahmen des Vorausfahrenden, nämlich durch das Abbremsen seines Fahrzeugs zu einem Unfall kommen. Jedoch wollte der Bundesgerichtshof mit den Erwägungen in BGHSt 18, 271, 272, 273  [BGH 15.02.1963 - 4 StR 404/62]nur zum Ausdruck bringen, unter der dort genannten Voraussetzung sei eine konkrete Gefahr stets zu bejahen, nicht aber, die Annahme einer konkreten Gefahr setze in jedem Fall notwendig voraus, daß der Eintritt eines Schadens nur noch durch Schutzmaßnahmen des Bedrohten oder eine sonstige plötzliche Wendung der Dinge verhindert werden könne. So hat der Senat denn auch in dem Beschluß BGHSt 19, 263, 268 f [BGH 04.03.1964 - 4 StR 529/63] das Heranfahren an den Vordermann bis auf 2 m bei einer Geschwindigkeit von 105 km/h als eine "sehr naheliegende, hohe Gefahr" für den Vorausfahrenden wie für andere Verkehrsteilnehmer gewertet, ohne darauf abzustellen, ob ein Zusammenstoß nur durch Abwehrmaßnahmen des anderen Fahrzeugführers oder durch eine sonstige Veränderung der zu Beginn des kilometerlangen Dichtauffahrens bestehenden Verkehrslage vermieden werden konnte.

Das entscheidende Gewicht des Beschlusses BGHSt 18, 271 liegt in der Unterscheidung zwischen einer nur entfernten, weit abliegenden Gefahr und einer solchen, die den Eintritt eines Schadens ernstlich befürchten läßt. Eine konkrete Gefährdung ist dann gegeben, wenn die Gefahr eines Unfalls in "bedrohliche" (BGHSt 13, 66, 70) [BGH 14.01.1959 - 4 StR 464/58] oder in "nächste" (BGH 4 StR 60/54 vom 20. Mai 1954) Nähe gerückt ist. Dies kann nicht schon deshalb verneint werden, weil das Verhalten des Täters nur im Falle einer nicht ganz geringfügigen Geschwindigkeitsherabsetzung des vorausfahrenden Fahrzeugs zu einem Zusammenstoß hätte führen können. Schon in der Entscheidung BGHSt 19, 263, 269 [BGH 04.03.1964 - 4 StR 529/63] hatte der Bundesgerichtshof ausgesprochen, daß bei einem Abstand von 2 m selbst bei einem nur verhältnismäßig geringfügigen Abbremsen des Vorausfahrenden dem so dicht folgenden Fahrer angesichts der hohen Geschwindigkeit von 105 km/h jede Reaktionsmöglichkeit fehle. Bei einem Abstand von nur etwa 5 m liegt es nicht anders. Dann können bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h schon die geringsten Zufälligkeiten zu einem Auffahren führen. Dem nachfolgenden Kraftfahrer steht bei einer ins Gewicht fallenden Geschwindigkeitsverminderung seines Vordermannes regelmäßig keine ausreichende Reaktionsmöglichkeit mehr zur Verfügung. Dabei kann eine solche Geschwindigkeitsherabsetzung nicht nur durch die in dem Vorlegungsbeschluß angeführten Umstände veranlaßt werden, sondern die verschiedenartigsten sonstigen Gründe haben. So kann den Vordermann ein plötzlich auftauchendes Hindernis auf der Fahrbahn, etwa ein die Fahrbahn kreuzendes Wild, oder ein Schaden an seinem Fahrzeug, etwa eine Reifenpanne, zum Bremsen zwingen. Die Antriebskraft seines Fahrzeugs kann wegen eines Motorschadens oder wegen Ausgehens des Brennstoffs plötzlich aussetzen. Erfahrungsgemäß setzen Kraftfahrer ihre Geschwindigkeit gelegentlich auch ohne rechtfertigenden Anlaß plötzlich und unter Umständen nicht unerheblich herab (Anzünden einer Zigarette, Aufheben eines auf den Wagenboden gefallenen Gegenstandes, plötzliche Ablenkung des Blicks). Mit solchen Möglichkeiten muß der nachfolgende Kraftfahrer rechnen (BGH VRS 18, 7). Schon bei dem durch zu geringen Abstand verursachten Unvermögen des nachfolgenden Kraftfahrers, einer nicht ganz geringfügigen Geschwindigkeitsherabsetzung seines Vordermannes zu begegnen, und nicht erst beim Eintritt einer solchen Geschwindigkeitsverminderung handelt es sich im Sinne des Beschlusses BGHSt 18, 271 um festgestellte tatsächliche Umstände, die die Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses begründen können. Dazu kommt die erhebliche und naheliegende Gefahr, daß sich der Fahrer, dem ein anderes Fahrzeug allzu dicht folgt, dadurch zu einem unsachgemäßen sich und andere gefährdenden unfallträchtigen Verhalten hinreißen läßt (BGHSt 19, 263, 269) [BGH 04.03.1964 - 4 StR 529/63]. Diese Gefahr wird noch dadurch erhöht, daß ein Fahrer, dem ein Fahrzeug mit nur 5 m Abstand folgt, diesen Abstand leicht noch niedriger schätzt, als er tatsächlich ist, und dadurch noch eher zu falschen Reaktionen kommen kann.

In wesentlichem Maße unterliegt der Begriff der konkreten Gefährdung der tatsächlichen Beurteilung des Einzelfalls, für die sich keine allgemein gültigen Richtlinien aufstellen lassen. Dabei wird neben der Länge der mit unzureichendem Abstand durchfahrenen Strecke, etwaigen erheblichen Unterschieden in der Bremsverzögerung der beteiligten Fahrzeuge und dem individuellen Reaktionsvermögen des Täters (vgl. hierzu OLG Saarbrücken VRS 34, 228) weiter zu berücksichtigen sein, inwieweit der nachfolgende Kraftfahrer infolge seines geringen Abstandes durch das vor ihm fahrende Fahrzeug in seinem ungehinderten Überblick auf die vor ihm liegende Fahrbahn beeinträchtigt war. In der Regel wird jedoch, wer auf der Autobahn einem anderen Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von rund 100 km/h nicht nur ganz vorübergehend in einem Abstand von nur etwa 5 m folgt, den Vorausfahrenden im Sinne des § 1 StVO gefährden, auch wenn dieser seine Geschwindigkeit unvermindert beibehält und sich deshalb der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen nicht verringert. (...)