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Erläuterungen zu § 4 StVO: Sicherheitsabstand im Straßenverkehr

Paragraph 4 StVO

1. Bedeutung und Anwendungsbereich des Sicherheitsabstands

Unzureichender Sicherheitsabstand ist eine der häufigsten Ursachen für Verkehrsunfälle. Besonders junge Fahrer sind überproportional betroffen. § 4 StVO fordert von allen Verkehrsteilnehmenden, einen ausreichenden Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug zu halten, um jederzeit rechtzeitig anhalten zu können. Dies gilt für alle Fahrzeuge im Sinne der StVO, also auch für Fahrräder, E-Bikes und E-Scooter. Die Vorschrift findet keine Anwendung auf Fortbewegungshilfen wie Kinderspielzeuge.

2. Faustregeln zur Abstandswahrung und ihre Grenzen

Die Straßenverkehrsordnung nennt keine exakten Mindestabstände in Metern, sondern fordert ein verkehrssicheres Verhalten. In der Praxis haben sich daher Faustregeln etabliert: Innerorts sollte der Abstand etwa der Strecke entsprechen, die in einer Sekunde zurückgelegt wird (bei 50 km/h etwa 15 Meter). Außerorts gilt: Der Sicherheitsabstand sollte mindestens dem halben Tachowert entsprechen, also z. B. 60 Meter bei 120 km/h. Bei Lkw über 3,5 t gilt auf Autobahnen bei mehr als 50 km/h ein gesetzlicher Mindestabstand von 50 Metern. Die Rechtsprechung verlangt in vielen Fällen sogar einen 1,5-Sekunden-Abstand.

3. Haftung beim Auffahrunfall und Anscheinsbeweis

Kommt es zu einem Auffahrunfall, spricht in der Regel der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden. Dies ergibt sich aus der allgemeinen Lebenserfahrung, dass solche Unfälle meist durch zu geringen Abstand oder Unaufmerksamkeit verursacht werden. Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 20.12.2012 – 9 U 88/11) entschied, dass dieser Anscheinsbeweis selbst dann nicht zwingend erschüttert ist, wenn der Vorausfahrende ohne verkehrsbedingten Anlass abrupt bremst. In solchen Fällen kann jedoch eine Mithaftung des Vorausfahrenden in Höhe von 50 % in Betracht kommen. Das OLG Hamm (Beschluss vom 31.08.2018 – 7 U 70/17) stellte klar, dass bei besonders gravierender Unterschreitung des Sicherheitsabstands (z. B. 2 m Abstand statt gebotener 10 m) die Betriebsgefahr des Vorausfahrenden vollständig zurücktritt.

4. Ausnahmen vom Anscheinsbeweis bei atypischen Unfallkonstellationen

Der Anscheinsbeweis greift jedoch nicht bei atypischen Verkehrslagen. Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 13.12.2011 – VI ZR 177/10) betonte, dass eine schuldhafte Verursachung nur dann angenommen werden kann, wenn das Unfallgeschehen typisch ist. Wenn etwa ein plötzlicher Spurwechsel des Vorausfahrenden vorliegt, entfällt die Typizität. Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 18.12.2018 – I-1 U 27/18) führte aus, dass bereits die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs ausreicht, um den Anscheinsbeweis zu entkräften.

5. „Zwingender Grund“ zum Abbremsen und seine rechtliche Bewertung

Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO darf ein Fahrzeugführer nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen. Dieser Begriff ist enger auszulegen als ein bloßer „triftiger Grund“. Das KG Berlin (Urteil vom 13.02.2006 – 12 U 70/05) entschied, dass ein vorausfahrender Fahrer, der grundlos stark abbremst, bei einem Auffahrunfall mithaftet. Das OLG Frankfurt (Urteil vom 02.03.2006 – 3 U 220/05) stellte klar, dass der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden entfällt, wenn ein erkennbarer Grund für das Abbremsen fehlt. In einem solchen Fall kann dem Vorausfahrenden ebenfalls ein Mitverschulden zugerechnet werden.

6. Polizeiliche Abstandsmessung und technische Verfahren

Zur Überwachung des Sicherheitsabstands nutzt die Polizei verschiedene Messmethoden. Am häufigsten sind stationäre Systeme wie VAMA oder VKS 3.01, die auf Brücken installiert sind. Ergänzt werden diese durch mobile Systeme wie Police-Pilot. Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 29.01.2010 – 4 Ss 1525/09) erkannte das Videobrückenmessverfahren als grundrechtskonform an. Auch das OLG Bamberg (Beschluss vom 25.02.2015 – 3 Ss OWi 160/15) hielt Abstandsmessungen für gerichtlich verwertbar, sofern keine plötzlichen Bremsungen oder Spurwechsel des Vorausfahrenden vorlagen.

7. Ordnungswidrigkeiten, Strafbarkeit und Konsequenzen

Unterschreitungen des Sicherheitsabstands können mit Bußgeldern, Punkten oder Fahrverboten geahndet werden. Bei Drängelverhalten kann auch der Straftatbestand der Nötigung erfüllt sein. Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 29.03.2007 – 2 BvR 932/06) stellte klar, dass bedrängendes Auffahren unter Umständen Gewalt im Sinne von § 240 StGB darstellt, wenn dies zu körperlich empfundenem Zwang führt. Dabei kommt es auf die Intensität, Dauer und die Begleitumstände wie Lichthupe oder Hupe an.

 

 
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