Gemäß § 10 StVO tragen ein- und anfahrende Verkehrsteilnehmer eine gesteigerte Verantwortung für einen sicheren Verkehrsablauf. Ziel der Vorschrift ist der Schutz des fließenden Verkehrs, der auf seinen Vorrang vertrauen darf.
Grundprinzip: Äußerste Sorgfaltspflicht
Sowohl beim Einfahren auf die Fahrbahn als auch beim Anfahren aus dem Stand ist jede Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Der fließende Verkehr hat Vorrang. Kommt es zu einem Unfall, spricht der sogenannte Anscheinsbeweis in der Regel für ein Verschulden des Ein- oder Anfahrenden. Gerichte gehen oft von Alleinhaftung aus, da dem Einfahrenden eine besonders hohe Sorgfaltspflicht auferlegt wird.
Einfahren: Situationen und Anforderungen
Das Einfahren im Sinne von § 10 StVO umfasst unter anderem:
- das Einfahren aus einem Grundstück
- aus einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1, 242.2)
- aus einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1, 325.2)
- über einen abgesenkten Bordstein
- von einem Parkstreifen oder anderen Straßenteilen
Der Vorgang endet erst, wenn sich das Fahrzeug dauerhaft in den fließenden Verkehr eingegliedert oder verkehrsgerecht abgestellt hat. Auch Radfahrer, die vom Gehweg oder Radweg auf die Fahrbahn wechseln, sind hiervon erfasst.
Besondere Anforderungen gelten in unübersichtlichen Situationen: Kann der Einfahrende den Verkehr nicht vollständig überblicken, muss er sich langsam in die Fahrbahn hineintasten. Falls dies nicht ausreicht, ist ein Einweiser erforderlich.
Anfahren vom Fahrbahnrand
Auch beim Anfahren ist die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen. Anfahren liegt vor, wenn ein stehendes Fahrzeug vom rechten oder linken Fahrbahnrand wieder in den fließenden Verkehr einfädeln möchte. Die Pflicht zur äußersten Sorgfalt gilt, bis jede Auswirkung auf das Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist. Eine Strecke von 10 bis 20 Metern nach dem Anfahren kann je nach Einzelfall noch zur Anfahrsituation im Sinne des § 10 StVO gehören.
Besonderheiten auf Parkplätzen
Auf Parkplätzen ist § 10 StVO nicht immer direkt anwendbar. Entscheidend ist, ob die Fahrspuren einem „Straßencharakter“ entsprechen. Einfahrt aus untergeordneten Flächen in deutlich gestaltete Zu- und Abfahrtswege kann wie Einfahren in den fließenden Verkehr gewertet werden.
Anforderungen an das Fahrverhalten
Ein- und Anfahrende müssen:
- den Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig und deutlich setzen
- sich durch Rück- und Umschau vergewissern, dass niemand gefährdet wird
- erforderlichenfalls auf einen Einweiser zurückgreifen
Eine Gefährdung liegt vor, wenn eine konkrete Gefahrensituation entsteht – also ein „Beinahe-Unfall“. Maßgeblich ist, ob aus Sicht eines objektiven Beobachters ein Schadenseintritt nur knapp vermieden wurde.
Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis
Bei Kollisionen mit Ein- oder Anfahrenden wird regelmäßig der Anscheinsbeweis gegen diese angewendet. Nur wenn nachgewiesen wird, dass kein typischer Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht vorliegt, kann eine Haftungsverteilung zu Gunsten des Einfahrenden erfolgen. Dennoch ist der fließende Verkehr ebenfalls zur Rücksicht verpflichtet und darf seinen Vorrang nicht erzwingen.
Bußgelder nach dem Bußgeldkatalog 2023
Bei Verstoß gegen § 10 StVO drohen Verwarnungs- und Bußgelder zwischen 10 und 35 Euro. Bei Unfällen mit Sachschaden oder Gefährdung kann dies auch haftungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Der aktuelle Bußgeldkatalog (TBNR 110100 ff.) listet insgesamt 17 relevante Tatbestände, u. a. bei fehlendem Blinken oder Gefährdung beim Anfahren.