Der sogenannte Mitzieheffekt spielt in der verkehrsrechtlichen Praxis insbesondere bei Rotlichtverstößen eine bedeutende Rolle. Es handelt sich um einen speziellen Unterfall des sogenannten Augenblicksversagens, bei dem ein Verkehrsteilnehmer aufgrund einer situativen Unachtsamkeit eine rote Ampel missachtet. Doch wann liegt tatsächlich ein entschuldbares Augenblicksversagen vor – und wann drohen Bußgeld, Punkte oder gar ein Fahrverbot?
Was ist der Mitzieheffekt?
Bei dem sogenannten Mitzieheffekt handelt es sich um eine Konstellation, die insbesondere auf mehrspurigen Fahrbahnen mit getrennten Ampelschaltungen vorkommt. Gemeint ist der Fall, dass ein Verkehrsteilnehmer nicht auf seine eigene Ampel, sondern auf die Ampel der benachbarten Spur achtet und fälschlicherweise losfährt, sobald diese auf Grün schaltet.
Typisches Beispiel:
Ein Autofahrer steht auf der Geradeausspur an einer roten Ampel. Neben ihm wartet ein Fahrzeug auf der Linksabbiegerspur. Sobald die Ampel für Linksabbieger auf Grün springt, fährt auch der Geradeausfahrer los – in der irrigen Annahme, dass die Grünphase auch für ihn gilt. In Wahrheit zeigt seine Ampel weiterhin Rot. Die Bewegung des nebenstehenden Fahrzeugs löst unbewusst den Impuls aus, ebenfalls anzufahren – der sogenannte Mitzieheffekt tritt ein.
Juristische Bewertung: Mitzieheffekt als Augenblicksversagen
Der Mitzieheffekt wird rechtlich als Unterfall des Augenblicksversagens eingeordnet. Ein solches Versagen liegt vor, wenn ein an sich pflichtbewusster Verkehrsteilnehmer kurzzeitig unaufmerksam ist und eine Verkehrsregel versehentlich verletzt.
Rechtsprechung zum Mitzieheffekt
Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat sich in einem vielbeachteten Beschluss (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21.12.2009 – 2 (6) SsBs 558/09 – AK 243/09) mit dieser Konstellation befasst. Die Richter erkannten an, dass bei einem Mitzieheffekt ein entschuldbares Augenblicksversagen vorliegen könne, das einen Regelfahrverbot entfallen lassen kann.
Zitat aus dem Beschluss:
Die Betroffene hielt ihr Fahrzeug ordnungsgemäß vor der für sie Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage an und fuhr schließlich infolge eines Wahrnehmungsfehlers, nämlich der Verwechslung des für sie geltenden Lichtzeichens, und […] aufgrund einer auf dem sogenannten Mitzieheffekt beruhenden Unachtsamkeit nach links in die Kreuzung ein, ohne die sich links von hinten nähernde Straßenbahn zu bemerken. Eine grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers ist in diesem Verhalten nicht zu sehen (OLG Karlsruhe NZV 1996, 206; NJW 2003, 3719; OLG Düsseldorf NJW 1993, 2063; NZV 2000, 91; OLG Stuttgart NStZ-RR 2000, 279; KG Berlin NZV 2002, 50).
Abgrenzung zum qualifizierten Rotlichtverstoß
Ein sogenannter qualifizierter Rotlichtverstoß liegt vor, wenn die rote Ampel bereits länger als eine Sekunde rot zeigt und der Fahrer dennoch in den Kreuzungsbereich einfährt. In solchen Fällen droht gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 BKatV ein Fahrverbot von einem Monat, zusätzlich zu einem Bußgeld von 200 Euro oder mehr sowie Punkten in Flensburg.
Im Gegensatz dazu kann der Mitzieheffekt – bei Vorliegen eines Augenblicksversagens – milder beurteilt werden, insbesondere wenn:
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keine konkrete Gefährdung von Fußgängern oder Querverkehr vorlag,
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die Verwechslung der Ampelschaltung nachvollziehbar war,
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der Fahrer ansonsten verkehrsrechtlich unauffällig ist.
Bedeutung für die Verteidigung in Ordnungswidrigkeitenverfahren
Die differenzierte Bewertung des Mitzieheffekts ist für die anwaltliche Praxis von zentraler Bedeutung. Wird dem Mandanten ein Rotlichtverstoß vorgeworfen, lohnt sich eine genaue Analyse der örtlichen Verkehrsführung und der konkreten Ampelschaltung. Lässt sich glaubhaft machen, dass es sich um ein Augenblicksversagen durch Mitzieheffekt handelte, kann unter Umständen vom Fahrverbot abgesehen werden.
Wichtige Ansatzpunkte für die Verteidigung:
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Exakte Dokumentation der Verkehrssituation (Ampelschaltungen, Spurenführung)
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Zeugen zum Anfahrverhalten anderer Fahrzeuge
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Keine konkrete Gefährdung durch den Rotlichtverstoß
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Verkehrsunauffälligkeit des Betroffenen